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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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innewohnt.
    » Hey.«
    » Tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen. Aber ich musste dich sehen. Entschuldige.«
    Brydon steht eine Treppenstufe über mir, und ich rede mit seinem Bauchnabel. » Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Er stellt sich neben mich und hebt mich die Stufe hinauf. Jetzt sind wir zwar immer noch nicht auf Augenhöhe, aber viel näher.
    » DC Griffiths in einem Kleid?«, sagt er. » Wurden die zuständigen Vorgesetzten informiert?«
    Das ist eben sein Humor. Entweder man mag ihn oder man mag ihn nicht.
    » Und Absätze«, sage ich. » Guck.«
    Er lächelt mich an. Es ist ein nettes Lächeln, obwohl ich weiß, dass er in Gedanken bei der Arbeit ist. Er muss so schnell wie möglich nach London aufbrechen.
    Hier ist es ziemlich ruhig. Eine von Tomasz’ Maschinen brummt vor sich hin, aber das stört uns ja nicht weiter.
    » Ich wollte nur sagen, dass du das Ganze ein bisschen langsam angehen musst.«
    » Okay.«
    » Nur weil … manchmal komme ich durcheinander, da ist langsam besser als schnell.«
    » Okay.«
    » Aber nicht, dass du denkst, dass ich …«
    Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich sagen wollte, also sage ich nichts.
    » Du willst nicht, dass ich denke, du hättest Selbstmordgedanken, nur weil du gestern auf der Cathedral Road fast in den Verkehr gerannt wärst.«
    » Richtig«, sage ich. » Genau das wollte ich sagen.«
    Einen Augenblick lang glaube ich, dass er mich noch mal küssen will. Das will ich auch. Das Verlangen zerrt förmlich an mir. Aber er küsst mich nicht, und ich kann einigermaßen Haltung bewahren. Stattdessen stupst er mit dem Zeigefinger gegen meine Nasenspitze.
    » Langsam ist prima«, sagt er.
    Er lacht mich wieder aus, und mir fällt auf, dass es nicht so schlimm ist, ausgelacht zu werden. Hat Ed mich jemals so ausgelacht? Ich glaube nicht.
    Dann ist er weg. Die Treppe rauf. Schwere Schritte, leichte Schritte. Er reißt die Tür oben so weit auf, dass sie gegen den Stopper kracht. Dieses vibrierende Abschiedsgeräusch hallt im Treppenhaus nach, Holz gegen Metall, dann wieder Stille.
    Ich setze mich auf die Treppe und versuche, mich wieder zu sammeln. Mein Herz rast, schlägt aber gleichmäßig. Ich zähle die Atemzüge und entspanne mich. Ich bewege Arme und Beine, will nachprüfen, ob ich sie noch spüre. Im Großen und Ganzen scheint alles normal zu sein.
    Ich spüre etwas, und ich glaube, ich weiß, was es ist. Trotzdem gehe ich nach dem üblichen Verfahren vor, was bedeutet, dass ich eine Reihe von Gefühlen nach demjenigen durchforste, das am besten passt.
    Angst. Wut. Eifersucht. Liebe. Glück. Ekel. Verlangen. Neugier.
    Angst. Wut. Eifersucht. Liebe.
    Liebe.
    Nein, das ist keine Liebe. Noch nicht. Aber auf dem besten Weg dorthin. Liebe mit einer großen Portion Glück. Zum ersten Mal in meinem Leben bewohnen diese Gefühle gleichzeitig meinen Körper. Macht’s euch gemütlich, Freunde. Fühlt euch wie zu Hause. Mi casa es su casa.
    Dennoch beende ich die Übung. Spür das Gefühl. Benenne es. Bring Begriff und Gefühl in Einklang. Bleib bei dem Gefühl. Vergiss nicht, es zu benennen. Lass dir Zeit. Aber lass dich nicht übermannen. Pass auf deinen Puls auf. Atme bewusst. » Verlasse« nicht deinen Körper. Spür deine Arme. Spür deine Beine. Wenn du willst, kannst du auf den Boden stampfen, damit du den Kontakt zu deinen Beinen nicht verlierst.
    Die Tür über mir öffnet sich wieder. Zwei Menschen kommen ins Treppenhaus, und keiner davon ist Dave Brydon. Ich kenne sie gar nicht und rutsche an den Rand der Stufe, um sie vorbeizulassen. Sie sehen mich an, sagen allerdings nichts und gehen in die Kopierstelle.
    Noch spüre ich weder Liebe noch Glück. Es ist, als würde ich im Flur stehen und der Musik der beiden aus dem Wohnzimmer lauschen. Ich höre das Lachen von Liebe und Glück, aber ich habe sie noch nicht erreicht. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ich hatte ein erstes Date mit Dave Brydon, da kann man kaum von einer Beziehung sprechen. Alles ist noch ganz, ganz, ganz am Anfang. Noch kann alles Mögliche passieren. Aber einmal, nur einmal in meinem hoffnungslos vergurkten Leben bin ich nicht nur in derselben Zeitzone wie die Zwillinge Liebe und Glück, ich bin sogar in Rufweite.
    Langsam lasse ich diese wunderbaren Gefühle auf mich einwirken. Ich lümmle auf der Treppe herum, mit klopfendem Herzen, in einem weiten grünen Kleid und Sandalen mit sechs Zentimeter hohen Absätzen. Ein Mann hat mich eine Stufe hinaufgehoben, weil ich mit

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