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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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Beobachte, was die anderen machen, und tu das Gleiche. Eine Palette gedeckter, klassischer Farben schien mir der sicherste Weg, diese Richtlinie zu befolgen.
    Seit Kay vierzehn oder fünfzehn ist, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, meine Garderobe aufzufrischen. Die sprüht aber leider immer noch nicht vor Leben, sondern sieht eher wie eine Ausstellung zum Thema » Bürokleidung der Jahre 2004–2010« aus. Trotzdem kann ich inzwischen Akzente setzen, die mir vor ein paar Jahren noch unmöglich gewesen waren. Außerdem treffe ich heute David Brydon. Und er mich. Ich will, dass er mich anstarrt – und zwar mit lüsternen Blicken voller Verlangen und Leidenschaft.
    Daher verzichte ich auf die übliche funktionale Unterwäsche und schlüpfe in BH und Höschen aus einer Marks-&-Spencer-Kollektion der gehobeneren Preisklasse. Weiße Spitze. Sommerlich und sexy. Außer mir wird sie zwar keiner zu Gesicht bekommen, aber das ist schon mal ein Anfang. Was noch? Irgendwann entscheide ich mich für ein weites mintfarbenes Kleid und eine Leinenjacke. Braune Riemchensandalen. Mehr Make-up als sonst, was aber immer noch nicht viel heißt.
    Dann betrachte ich mich im Spiegel. Spiegel zeigen einem nur, was man schon kennt, ja? Dieser nicht. Ich sehe eine junge Frau. Hübsch. Auf eine solide Art attraktiv. Und aufgeregt. Sie sieht aus, als würde sie gleich den Mann treffen, der vielleicht ihr nächster fester Freund wird. Viel Glück, Schwester, obwohl du das gar nicht brauchen wirst.
    Pünktlich heißt pünktlich, daher renne ich aus dem Haus. Die Pistole stecke ich in die Handtasche, die Munitionsschachtel lasse ich im Haus. Dann düse ich in die Arbeit. Zumindest so schnell es der Verkehr erlaubt. Fast hätte mich eine Überwachungskamera erwischt, aber ich glaube, ich habe im letzten Moment gebremst. Im Parkhaus nehme ich die Waffe aus der Handtasche und lege sie ins Handschuhfach.
    Ich komme gerade rechtzeitig, um die große Neuigkeit mitzubekommen: Sikorskys Wohnung im Norden von London wurde gestern Nacht durchsucht. Jackson ist mit DI Hughes in die Hauptstadt gefahren, sie haben schon Verstärkung angefordert. Die Einsatzbesprechung fällt aus, da niemand da ist, der sie leiten könnte. Außerdem will sowieso keiner hören, was gestern passiert ist, wenn die richtige Action heute abgeht.
    Ich bin nicht die Einzige, die sich komisch dabei fühlt. Die ganze Abteilung ist etwas ratlos. Dem armen DC Jon Breakell, der bereits eine Woche damit verbracht hat, einsam die Bänder der Überwachungskameras zu durchforsten, steht ein weiterer Tag bevor, den er mit dieser – sollte sich in London etwas ergeben – möglicherweise völlig sinnlosen Tätigkeit zubringen wird.
    Ich bin ebenfalls ratlos. Heute ist doch der große » Hallo, Dave Brydon!«-Tag. Der Tag des grünen Kleides, des Make-ups und der femininen Sandalen. Heute sollte ein ganz besonderer Tag werden. Der erste Tag, an dem ich meine Rolle als neue Freundin von Dave Brydon übe, und ich habe mich sehr darauf gefreut.
    Er sitzt an seinem Schreibtisch und sucht noch ein paar Sachen zusammen, bevor er nach London fährt, um sich mit seinem Boss zu treffen.
    » Hey, Fi«, grüßt er mich.
    Keine Berührung. Kein Kuss. Nur ein Blick, der mir sagt, dass ich letzte Nacht nicht geträumt habe.
    » Kann ich dich kurz sehen? Ich weiß, du musst los. Nur zwei Minuten.«
    Er zögert. Wir sehen uns ja gerade. Wir sind nicht mal einen Meter in einem gut ausgeleuchteten Büro voneinander entfernt, und keiner von uns hat über Nacht das Augenlicht verloren. Brydon hat keine Lust auf eine Büroaffäre und schon gar nicht darauf, heimlich im Wandschrank zu knutschen oder so. Ich auch nicht. Und er will erst recht keine Büroaffäre, die ihn an der Erfüllung seiner Pflicht hindert.
    Aber diesmal geht es nicht anders.
    » Gehen wir zur Hintertreppe, wo’s zur Kopierstelle geht. Da ist jetzt bestimmt niemand, und niemand kann uns hören, wenn die Türen zu sind. Ich geh schon mal vor. Komm einfach nach, wenn du hier fertig bist.«
    » Okay. Zwei Minuten. Bis gleich.«
    Ich gehe ins Treppenhaus und stelle mich auf einen Absatz, wo mich keiner sehen kann. Ich bin nervös und ängstlich. Die zwei Minuten kommen mir wie eine Ewigkeit vor.
    Dann geht die Tür oben auf, und ich höre Brydons Schritte. Sie sind gleichzeitig schwer und federleicht. Schwer, weil er ein ziemlich großer Kerl ist, und leicht, weil er von Natur aus sportlich ist und jeder seiner Bewegungen eine gewisse Eleganz

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