Totenklang
nieder. Jesus auf dem Relief und Abi, der es diesmal nicht geschafft hat, aus seiner Strauchelei heraus einen Sturz zu vermeiden.
Irgendetwas muss in Franky beim Bergaufgehen über den Kreuzweg vorgegangen sein. Er flippt nicht aus, er schimpft seinen Fürbitter nicht einen Schwachkopf und er ballert nicht versehentlich herum.
Er ist eins mit sich, wer immer er auch ist. In einer tief-voluminösen Stimmlage, die ich bisher nicht von ihm gehört habe, gebietet er uns, stehen zu bleiben und zwar zentral vor dem Druidenstein, vor dem ein großes Feuer lodert. Um es herum haben sich rund ein Dutzend Menschen versammelt, die allesamt verstummen, als sie des Spielleiters ansichtig werden. Fällt dir was auf, fragt Kalle. Ja, alles Männer. Wo ist Felicitas? Fällt dir noch was auf, fragt Kalle. Ja, es sind genau zwölf Männer und alle in Weiß. Sealthiel und Jehudiel haben neben dem, der ist , eine Sonderrolle. Doch wo ist Felicitas?
Der Spielleiter hinter Abi und mir drückt uns auf die Schultern. Das Zeichen zum Niederknien, nehme ich an, denn die, ich nenne sie jetzt mal zwölf Jünger, tun es ebenfalls. Wie auf ein geheimes Kommando beginnen sie zu musizieren. Es erklingen Flöten, Trommeln, Saiteninstrumente – nie gehörte Klänge. Psychedelische Musik.
Mit einem Stoß in den Rücken werden wir aufgefordert, aufzustehen und zum Feuer zu gehen. Mit jedem Schritt in Richtung der Zwölf werden die Umrisse der Instrumente klarer. Auf Anhieb erkenne ich die Knochenflöten und auch die Schlagwerkzeuge, die aus längeren Knochen bestehen. Ein vollständiger Unterkiefer eines Totenkopfes gibt kastagnettenähnliches Klappern von sich. Ich will nicht wissen, wessen Sehnen durch das Zupfen eines Instrumentes, ähnlich einer indischen Sitar, in Schwingungen gebracht werden und einen gleichförmigen Klangteppich bilden. Eine Perkussion ist außen mit Bambi bespannt, seine weißen Flecken schimmern im Feuerschein. Wo ist Felicitas? Ich blicke in die Gesichter der Männer. Sie sind ernst, ein wenig entrückt. Würde mich nicht wundern, wenn hier Drogen im Spiel sind.
Plötzlich füllt ein glockenklarer, heller Gesang die Atmosphäre. Die weibliche Stimme schallt über das Szenario und klingt wie von Engeln getragen. Unsere Augen wandern an dem Druidenstein empor. Felicitas.
Sie steht dort ganz oben vor dem Kreuz und singt göttlich. Ich bin in der Musikrichtung nicht gerade bewandert, doch die Melodie lässt mich an das Ave Maria denken. Es ist wundervoll und gleichzeitig bizarr. Sie steht dort, breitet die Flügel aus, genau so wirkt es nämlich, denn sie trägt ein Kleid, dessen Ärmel weit geschnitten sind. Ihre Haltung und ihr Gesang sind von erhabener Schönheit. Sie ist sich ihrer Gefahr nicht bewusst. Für sie ist es das Spiel. Sie wird nicht wissen, wie viele Menschen und Tiere geopfert wurden, um ihre Interpretation zu untermalen. Komm da runter, möchte ich ihr zurufen. Der kurze Pistolenlauf in meinem Rücken bremst spontanen Aktionismus.
Wenn ich der bin, der ich glaube, in dem kranken Spiel zu sein, wird meine Aufgabe darin bestehen, vielleicht sogar gemeinsam mit ihr in die Tiefe gestürzt zu werden. Aber ich wäre nur der Vergelter und Uriel wäre mein Vorgesetzter, und er müsste mich, der ich einen Fehler gemacht haben muss, ins Totenreich überführen. Nicht ins Paradies, in den Abgrund. Soll Uriel mich richten? Ich ihn? Wir uns? Mir wird übel und meine Augen füllen sich mit Tränen. Der Rauch. Oder wurde sie umbesetzt und ist die Herke? Dann wäre sie das Opfer. Lass dir was einfallen, lass dir was einfallen, lass dir was einfallen … murmelt es wie ein Mantra in mir. Falscher Text. Mir wird was einfallen, mir wird was einfallen, mir wird was einfallen. Das lässt sich sehr gut in den gleichförmigen Rhythmus der Musik beten.
Der, der ist , schwingt einen Stab und Stille kehrt ein. Das Knistern der Flammen und das Rauschen des Windes in den Bäumen sind die einzigen Geräusche.
Sealthiel wird auf den Stein geschickt. Oh, Mann, der Stolpervogel, das geht nicht gut, raunt Kalle und kann gar nicht hinsehen, wie der spillerige Ex-Punk den Basalt erklimmt. Während er klettert, beginnen einige der Musikanten, die Trommler, einen Takt, der an Indianerfilme erinnert.
Seine prekäre Lage hat Abi ernüchtern lassen. Ohne Absturz gelangt er zu Felicitas. Als er bei ihr ist, verstummen die Trommeln und Sealthiel spricht mit gefalteten Händen eine Art Gebet, dessen Inhalt nicht zu verstehen ist.
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