Totenklang
nicht, es ist zu dunkel.
Da Franky in dem Moment zu beschäftigt damit war, Abi eine Ohrfeige zu erteilen, hat er nicht mal die Richtung wahrgenommen, in die ich die Geißel warf.
»Stümper, Dilettanten, das macht ihr mit Absicht, ein bisschen Ernsthaftigkeit und Dramatik, wenn ich bitten darf!«, plärrt er durchs Unterholz. Ich glaube, dass er das Geißel-Intermezzo kurzfristig in sein Drehbuch geschrieben hat, denn die ganze Sache wirkte unrund. Ich bin nicht Jesus und habe auch kein Holzkreuz auf dem Buckel.
»Stümper!«, sagt er abermals und ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, dass er damit sich selbst meinen könnte.
Wenn der Gestörte keine Waffe in der Hand hielte, mit der er herumfuchtelte, könnte man, von außen betrachtet, die Szenerie urkomisch finden. Kalle beginnt zu singen, aus Hilflosigkeit, nehme ich an, mit verhaltener Stimme: ›Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm, hat aus lauter Purpur ein Mäntlein um …‹ Heiner, Heiner, dreh jetzt bloß nicht ab.
Ein sich lösender Schuss lässt uns alle verstummen. Im Nachhall geht das Klirren der Scheibe des Bildnisses der Station III, ›Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuze‹, ein wenig unter. Die Kugel durchschlug die rechte Hand des Soldaten, die den Speer zum Rücken des Gefallenen zeigen lässt. Ein gutes Zeichen, deutet der Advokat, dessen bodenständiges Rechtsempfinden sich auf dem Weg hinauf ins Reich der unerklärlichen Phänomene zu bewegen scheint.
Der Schock über den Schuss traf nicht nur die Erzengel, sondern auch den Auslöser, Franky. Der schaut ungläubig erst auf die Pistole in seiner Hand und dann auf das Einschussloch in der Hand des Soldaten. Das macht er drei Mal. Dann hat er endlich geschnallt, dass er es war. Er scheint selbst nicht nach seinem eigenen Plan zu funktionieren. Das wird ihn eine weitere Spur unberechenbarer machen. Wenn ich nur wüsste, welche Geschichte hier zur Aufführung gebracht werden soll.
»Die Zeit rennt uns davon! Änderung im Ablauf. Hurtig, den Berg hinauf!«, treibt der Regisseur uns an. Der Weg windet sich um etliche Kurven. Meine Gedanken ebenfalls. Es ist schwer, sie zu sammeln. Ein Seitenblick auf Abi zeigt mir, dass dieser erst jetzt zu begreifen scheint, auf welches Spiel er sich eingelassen hat. Er zittert leicht und stolpert häufig.
›Die Zeit rennt uns davon‹ – ist ein guter Ansatz für Überlegungen, um welche Art des freien Schauspiels und Epoche es gehen könnte. Ich sammle die Zeiten. Da haben wir die 25 Millionen Jahre, den Vulkanausbruch, das Magma, den Druidenstein. Um die Zeit wird es sich nicht drehen.
Die Kelten und ihre Opferstätte. Die Druiden, Gruppe der Priester, Philosophen, Politiker unter den Kelten, besiedelten das Siegerland ab circa 600 vor Christus. Kelten verhütteten Eisen, verraten die gefundenen Reste von Schmelzöfen. 200 vor unserer Zeitrechnung wurden sie von den Germanen von hier vertrieben. Stichhaltige Belege für Menschenopfer gibt es nicht, aber eine Sage von der ›Herke vom Druidenstein‹ erzählt die Geschichte der Druidin, die aufgrund ihres hohen Amtes allem Irdischen entsagen sollte. Sie verliebte sich jedoch, folgte dem Mann und musste dafür ihr Leben auf dem Opfertisch lassen. ›Herke vom Druidenstein‹ – Felicitas Engel? Aber warum dann ihr Name Uriel?
Mittlerweile haben wir die Station VIII erreicht: ›Jesus tröstet die weinenden Frauen‹. Von Ferne höre ich Stimmengewirr und Rhythmusinstrumente.
Unsere bodenlang wallende Kostümierung passt jedenfalls in die Druiden-Zeit, stelle ich mir vor, wobei die Druiden Weiß getragen haben sollen, nun, für Sealthiel trifft das zu. Für die Germanen soll der Ort ebenfalls Kultbedeutung gehabt haben, doch da habe ich im Unterricht gefehlt, Beinbruch nach Schwarzfahrt durchs Schuldwäldchen mit einem frisierten Mofa.
Station X: ›Jesus wird seiner Kleider beraubt‹.
Die ›Erzengel-Zeit‹. Entstehungsgeschichte des christlichen Abendlandes. Nicht ganz, fällt mir der Text aus dem Internet ein. Die Hinrichtung der Engel, die in dem Enochbuch, das es nicht in die Bibel geschafft hat, behandelt wird, spielt vor Christi Geburt. Wenn man es genau betrachtet und zeitlich abstecken will, beschäftigen uns die Engel bis heute. Der Kult der himmlischen Heerscharen überdauert die Zeiten.
Ich rieche Feuer, jetzt sehe ich es auch. Wir nähern uns der Wiesenfläche vor dem Druidenstein. Station XI: ›Jesus wird ans Kreuz geschlagen‹. Da liegt er
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