Totenklang
Geißel auf, schwingt sie heyja-heyja-Laute ausstoßend, wie man sie aus uralten Zorro-Filmen kennt, durch die Luft und verlässt den Raum.
Ich muss an den verschrobenen Raum in der Kneipe denken. Es gibt Phasen im Leben, da häufen sich bestimmte Merkmale, als wollten sie einem etwas mitteilen. Das hier ist so ein Moment. SM, Rollenspiele, Knochen, Zweitverwertung, Engelskult, Jehudiel, der Vergelter, mit Krone und Geißel.
Matroschka legt ab und offenbart ihre dunkle Seite.
48
Wer bin ich? Ich knüpfe an meine Überlegungen von vorhin an, setze mich auf den Boden, lehne mich an die kalte, weiße Wand.
Ein Engel von höherem und anerkanntem Rang bin ich sicher nicht. Auch nicht Gabriel, nicht Raphael. Barachiel ist tot, Uriel spielt eine Hauptrolle, die von Felicitas verkörpert werden soll. Bleiben Sealthiel, der Fürbitter und Jehudiel, der Vergelter. All die Gedankenspielereien basieren auf der Annahme, dass es um die sieben Erzengel geht, vielmehr um die vier, von denen ich seit Kurzem Kenntnis habe.
Zu gerne wüsste ich den Plot der Story, die sich Franky ausgedacht hat. Manchmal verwenden Rollenspieler historisch markante Ereignisse, wie zum Beispiel die Französische Revolution, als Grundlage für ihre Zeitreisen, erinnert sich der Advokat an eine Internetseite, auf die ich vor einiger Zeit stieß, als ich mich mit der Überlegung befasste, mich als altertümlicher Briefschreiber auf Märkten und Festen zu verdingen. Einen Zulieferer für handgeschöpftes Papier hatte ich schon. Ein Klapptischchen hätten mir die lieben Bewohner der Behindertenwerkstatt gebaut, fehlte lediglich ein originalgetreues Outfit. Letzten Endes kam mir der regelmäßige Einsatz in der Tankstelle dazwischen. Selbstbehindernde Strategie, frei nach dem Spruch, sich lieber mit dem Spatz in der Hand zu begnügen. Ach, hätte ich das doch mal durchgezogen. Ich beschließe, es zu tun, wenn ich das hier überleben sollte, dann käme ich auch mal ein bisschen rum in der Welt. Deine Welt, lieber Heiner, stellt der Advokat in seiner unverwechselbaren Art fest, besteht derzeit aus einer Art Folterkeller, und dein Outfit lädt einen an einen schlechten Scherz denken. Warum kannst du so ruhig hier hocken bleiben, fragt Kalle, und ich mutmaße, dass es an meinem schlechten Ernährungszustand liegt. Wasser- und Nährstoffmangel. Ein starker Kaffee wäre jetzt gut.
Als habe man es erhört, öffnet sich die Tür. Merke, sagt Kalle, sie war nicht verriegelt. Abi kommt herein und bringt mir eine Scheibe Weißbrot und eine Tasse Kaffee. Der Punk hat sich in der Zwischenzeit den Kamm geschoren und sieht auf dem Kopf aus wie ein darbender Bettelmönch. Passend zur neuen Nichtfrisur trägt er ein weißes Gewand um den Körper geschlungen. Was rollenuntypisch ist und wohl auch bleibt, ist seine kindische Art zu feixen. Mit übertriebener Gestik und der ehrfürchtigen Mimik eines verknöcherten Sonntagsschullaienpredigers lässt er ausladend das Holzbrettchen vor mir ab und sagt tief brummend:
»Ora et labora. Lasset uns beten, arbeiten können die anderen!« Er faltet die Hände und da ihm nichts Altertümliches oder weiteres Latein einfällt, murmelt er:
»Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne mit Gnaden, was du uns bescheret hast. Amen.« Dann lacht er.
»Verdammt!«, hallt es durch die offene Kellertür und Sealthiel, da bin ich mir jetzt ziemlich sicher, beeilt sich mit dem Abgang, schlägt die Tür zu. Merke, sagt Kalle, er hat sie nicht verriegelt. Nützt herzlich wenig, solange ich das Fußkettchen habe. Vor meinem inneren Auge kristallisiert sich eine Handlungsalternative. Wenn das nächste Mal einer der beiden hereinkommt, werde ich bereit sein. Die Person in meine Reichweite lotsen, die circa ein Meter und fünfzig lange Kette würgend zur Anwendung bringen. Person tretend von den Füßen holen, wenn sie am Boden liegt, die Kette um den Hals legen und zuziehen. Hoffe, Franky wird auf der Bühne erscheinen, der wird den Schlüssel zur Kette haben.
Für einen Sekundenbruchteil fühle ich mich nicht allein in dem Raum, mir wird kalt. Das wird an deinem dünnen Gewand liegen und an einer beginnenden Unterzuckerung. Mit dem Plan im Kopf, dem Willen in allen Muskeln und Sehnen, genügend Kraft für die Befreiungstat aufzubringen, beiße ich in das trockene Brot und spüle es mit dem Kaffee runter. Trotz der Süße schmeckt das Gebräu bitter. Scheiße, Heiner, das Trinken war ein Fehler, was heißt eigentlich Scheiße auf Latein,
Weitere Kostenlose Bücher