Totenklang
unten. Meine dicke Lippe riskiere ich nur, weil ich daran festhalte, davon auszugehen, dass Franky noch etwas mit mir vorhat.
»Ich mime nicht, ich bin . – Ab mit ihm!«, befiehlt er Abi.
»So? Ich muss ihm doch wenigstens die Verschnürung abnehmen – ich werde ihn nicht tragen, hihi, gefallener Engel, hihi«, kichert er. Der ist voll breit. Ich erinnere mich an das Koksröhrchen um seinen Hals. Seine Pupillen sind so groß wie die Knöpfe meines Armeeparkas. Der hat ein bisschen viel Gras geraucht, vermutet auch der Advokat.
»Oh, Mann, elendiger Kiffer, klar müssen die Fesseln herunter. Hast du deinen Charakter nicht studiert? – Schwachkopf!« Der, der ist , regt sich auf, was wiederum seiner Rolle nicht gerecht zu werden scheint, denn ich erahne mehr, als dass ich es sehe, dass er seinem Fürbitter zu gerne an die Gurgel springen würde. So stelle ich mir die Verzweiflung eines Theaterdirektors vor, dessen kleine Bühne kurz vor der Schließung steht, und diese eine Fantasie ist alles entscheidend und das Gros der Truppe ist betrunken, hat seinen Text vergessen, im Saal der Bürgermeister und der Leiter des Finanzausschusses sowie der Kulturdezernent.
Kaum hat mich die Vorstellung vom Theater verlassen und kaum bin ich die Schnüre los, vergegenwärtige ich mir, wo wir sind. Im Grunde ein fantastischer Ort. Mein Blick streift über Herkersdorf. Wir befinden uns am Ausgangspunkt des Kreuzweges, der zum Druidenstein führt. Gut, dass ich bei den Schulausflügen hierher immer zugehört habe, denn sie fielen genau in die Zeit, in der ich mich mit Vulkanen und Gestein beschäftigte, die Zeit, in der sich meine Klassenkameraden mit den Erhebungen auf der weiblichen Landkarte befassten.
In den Fünfzigerjahren gab es hier das ein oder andere Freilichtspiel. Diese Tradition soll wohl zur Stunde aufleben. Das Naturdenkmal, ein rund zwanzig Meter hoher Basaltkegel aus der Zeit des Jung-Tertiär, vor Jahrmillionen also, dient heute an Himmelfahrt als Ziel einer Prozession. Um die früheren Verwendungen der Kultstätte ranken sich etliche Sagen. Seinen Namen hat der Basaltkegel den keltischen Druiden zu verdanken, damals muss er noch um das Zweifache höher gewesen sein. Man brach im Dreißigjährigen Krieg die Spitze ab, um dem Feind die Ortung zu erschweren, man nutzte das Gestein zum Straßenbau, ein Blitz schlug ein und so schrumpfte das Denkmal. Apropos denk mal!
Denk nach, Heiner, worauf könnte dieser Geisteskranke hinauswollen? Kreuzweg, Kreuzigung – uiuiui – sehe mich schon am Kreuz hängen, jenes, das ganz oben auf dem Kegel angebracht ist. Nein, das passt nicht ganz zu dem Engelszauber und der Theorie, dass du Jehudiel, der Vergelter, sein sollst, wirft der Advokat ein – außerdem ist Franky in diesem roten Stoff. Es gibt da so ein Auferstehungsbild von Jesus, da ist er auch in Rot. Woher er das nun wieder weiß? Das Gehirn ist ein merkwürdiger Kasten. Denk ich wiederholt und werde den Kreuzweg hinaufgeschoben. Franky versäumt es zuvor nicht, mir seine Waffe nochmals zu zeigen.
»Ist ja wohl auch nicht ganz stilecht«, gebe ich Laut. Der, der ist , schnauft verächtlich, sagt aber nichts.
Frage mich, warum wir nicht gleich bis zum Druidenstein hochgefahren sind, statt jetzt in der beginnenden Dunkelheit durch den Wald zu stolpern, über schmale Pfade, Wurzelwerk und an den Brennnesseln längs. Die kitzeln einen an den nackten Knöcheln, wenn man zu weit von der Mitte des Weges abweicht. Die spartanische Apostelbereifung, eine dünne Ledersohle, die mit Riemen an meinen Füßen befestigt ist, lässt mich jeden Stein spüren.
Doch es wird noch besser kommen, meldet sich bereits die Sorte Galgenhumor, die sich aus der jahrelangen Lebenserfahrung eines geschiedenen, arbeitslosen Mittvierzigers nährt. Der Kreuzweg ist gesäumt von Altären, darin jeweils eine Darstellung des Weges Jesu bis zur Kreuzigung. Dreimal bricht Jesus unter der Kreuzeslast zusammen, vor exakt diesen Darstellungen soll ich mich selbst geißeln, während Abi, Verzeihung, Sealthiel, den Text auf der Tafel darunter liest und ein Fürbittegebet spricht. Letzteres geht ebenfalls gewaltig daneben, denn der bekiffte Engel kriegt das mit dem Beten nicht ohne dämliches Gegacker auf die Reihe. Ich bekomme die dreischwänzige Geißel und soll mich auspeitschen. Dabei stelle ich mich recht ungeschickt an, das muss ich nicht mal proben, und lasse das Ding irgendwo ins Nichts fallen, in die Nesseln wahrscheinlich. Man sieht es
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