Totenkünstler (German Edition)
über den zweiten Besucher bei Mr Nicholson sprechen.«
»Mir ist nichts Neues mehr eingefallen«, sagte Amy. Es schien ihr aufrichtig leidzutun.
»Das ist schon in Ordnung. Eigentlich wollte ich bloß, dass Sie sich ein Foto ansehen und mir sagen, ob es eventuell die Person sein könnte, die bei Mr Nicholson zu Besuch war.«
»In Ordnung.« Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
Screamer, der Familienhund, begann jenseits der geschlossenen Küchentür laut zu bellen. Amy machte ein genervtes Gesicht. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Detective.« Sie stand auf und öffnete die Tür, ließ den Hund jedoch nicht herein. »Delroy!«, rief sie. »Könntest du Screamer nach draußen bringen? Ich kann mich jetzt nicht um ihn kümmern.«
»Ich guck das Spiel!«, kam ein kräftiger Bariton zurück.
»Kannst du dann bitte Leticia sagen, sie soll ihn mit nach oben nehmen?«
»Leticia!«, rief Delroy, noch lauter als zuvor. »Komm und hol deinen Hund, bevor ich ihm den Hals umdrehe.«
Kopfschüttelnd schloss Amy die Tür. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie, als sie zu ihrem Platz zurückkehrte. »Manchmal treibt mich dieser Hund in den Wahnsinn. Und mein Mann erst recht.«
Hunter lächelte. »Überhaupt kein Problem.« Er legte ein DIN-A4-großes Foto von Andrew Dupek vor sie hin. »Ist das der Besucher?«
Sie nahm das Foto in die Hand und betrachtete es lange und gründlich.
»Tut mir leid, Detective, aber das ist er nicht. Der Mann sah jünger aus und dünner. Ja, ganz bestimmt.« Sie legte das Foto zurück auf den Tisch.
Hunter nickte, ließ das Foto aber liegen. »Was ist mit dem hier?« Er präsentierte ihr ein zweites Bild, es zeigte Ken Sands. Hunter hatte im kalifornischen Staatsgefängnis in Lancaster angerufen und sich ein aktuelles Foto schicken lassen. Es war am Tag seiner Entlassung aufgenommen worden. Seine Haare waren darauf lang und verfilzt, und er hatte sich einen struppigen Bart stehen lassen, so dass seine Gesichtszüge kaum zu erkennen waren.
»Dies ist das aktuellste Foto, das wir von ihm haben«, erklärte Hunter. Er wusste, dass Sands’ verzotteltes Aussehen Absicht war. Viele Häftlinge, die mittlere oder lange Freiheitsstrafen verbüßten, sahen bei ihrer Entlassung ganz ähnlich aus. Es war ein einfacher Trick, um zu verhindern, dass die Behörden ein gutes Foto von ihnen hatten. Kaum in Freiheit, wurden die langen Haare und der struppige Bart abrasiert. »Bestimmt hat er jetzt nicht mehr so viele Haare im Gesicht.« Hunter zeigte ihr ein letztes Foto – das von Sands bei seiner Verhaftung. »So sah er ungefähr vor zehn Jahren aus.«
Amy nahm das Bild von Hunter entgegen. Sie schaute es lange an.
Hunter verhielt sich still und ließ ihr so viel Zeit, wie sie brauchte.
»Er könnte es gewesen sein«, sagte Amy schließlich.
Hunter spürte ein Kribbeln durch seinen Körper gehen.
»Aber ich bin mir wirklich nicht sicher. Der Mann, der Mr Nicholson an dem Tag besucht hat, hatte keinen Bart und auch keine langen Haare. Er trug einen Anzug.«
»Das verstehe ich.«
Amys Blick war noch immer auf das Foto geheftet. »Aber möglich wäre es schon.«
50
Das Blut auf dem Boden und an den Wänden war geronnen und dann getrocknet. Mit dem Absterben der roten Blutkörperchen und ihrer allmählichen Verwesung war der charakteristische Eisengeruch des Blutes verflogen und hatte einem anderen, sehr viel strengeren Geruch Platz gemacht: ranziges Fleisch, vermischt mit saurer Milch. Genau so stank ein gewaltsamer Tod – das behaupteten zumindest viele, die schon einmal am Schauplatz eines brutalen Mordes gewesen waren.
Hunter blieb an der Tür zu Dupeks Kajüte stehen. Mitten in der Nacht alleine an Tatorte zurückzukehren war für ihn mittlerweile fast zu einer Obsession geworden. Es gab ihm die Möglichkeit, sich in aller Ruhe umzuschauen und zu versuchen, sich, und sei es nur für kurze Zeit, in die Gedankenwelt des Mörders hineinzuversetzen. Aber wie konnte man Sinn in der Sinnlosigkeit finden?
Hunter hatte den Bericht der Spurensicherung wieder und wieder gelesen. Die Schuhabdrücke, die er tags zuvor auf dem Fußboden der Kajüte gesehen hatte, waren sehr uneinheitlich und konnten keiner bestimmten Schuhgröße zugeordnet werden. Die Blutmenge auf dem Boden war so groß, dass sofort nach Anheben des Fußes Blut nachgeflossen war und die Konturen verwischt hatte. Das erschwerte die kriminaltechnische Analyse erheblich. Mike Brindle, der Leiter des
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