Totenkult
den Kopf. Die Freiheit war nur Zentimeter entfernt, und das dumme Insekt rannte sich den Schädel an der Fensterscheibe ein. So viel zum untrüglichen Instinkt der Tiere. Auch nicht besser als die Menschen.
Sie stellte die große Tasse mit den aufgemalten Bauernrosen in die Espressomaschine und drückte auf den Einschaltknopf. Die Hummel krabbelte eifrig über das Fensterkreuz. Schon war sie auf dem Weg in die Freiheit, doch dann hob sie wieder ab und kehrte zu der trügerischen Scheibe zurück. Mit unermüdlicher Energie versuchte sie, das unsichtbare Hindernis zu überwinden.
Während Marie darauf wartete, dass ihr doppelter Morgenkaffee aus der Espressomaschine in die Tasse lief, schaute sie dem Überlebenskampf des Insektes zu. Wie lange konnte so ein kleines Tier das durchhalten? Das Summen ging ihr auf die Nerven.
Marie nahm die Fliegenklatsche, die immer griffbereit neben dem Kühlschrank lag, und schlich zum Fenster hinüber. Als sie nur noch einen Meter entfernt war, holte sie aus. Der Pelz der Hummel glänzte golden in den Strahlen der Morgensonne, ihre schwirrenden Flügel schimmerten bläulich. Eigentlich ein schönes Tier. Der Gedanke an die blutigen Überreste auf der sauberen Fensterscheibe ließen Marie kurz innehalten. Dann schlug sie zu. Aber sie hatte zu lange gezögert und schlecht gezielt. Die Hummel spürte den Lufthauch und wich nach rechts aus. Direkt zum offenen Fensterflügel hinüber und hinaus in die Freiheit. Marie klopfte mehrmals mit der Fliegenklatsche in die Handfläche.
Sie schaute dem kleinen Punkt nach, der jetzt über dem üppigen Staudenbeet vor der Terrasse hin und her gaukelte. Die blauen und rosaweißen Glockenblüten des Fingerhutes leuchteten in der Sonne, die um neun Uhr schon kraftvoll auf den Garten brannte. Die Farben der Blumen stachen geradezu ins Auge. Schwarze Wollfäden kräuselten sich auf den dicken Stängeln.
Marie musste das Beet neu bepflanzen lassen, vielleicht mit alten englischen Rosen. Die hatten zwar Dornen, aber ihr süßer Duft passte besser zu ihrem neuen Leben. Der schwere Eisengrill stand auch noch immer unter den Weiden. Im Haus fehlte eindeutig ein starker Mann. Zwischen ihrem grüngoldenen Laub schimmerte der Wolfgangsee. Eine Armada von Segelbooten kreuzte bereits zwischen Abersee und Falkenwand und nutzte die steife Brise für eine Regatta. Ihre weißen Segel leuchteten zwischen den lanzenförmigen Blättern, wenn der Wind den Weidenvorhang teilte. Aus der Ferne kroch wie ein schwarzer Wasserkäfer der Ausflugsdampfer, die »Franz Josef«, heran. Unbeeindruckt von der eleganten Konkurrenz hielt das Schiff Kurs auf St. Gilgen.
Marie drehte sich um und ging zurück in die Küche. Sie warf die Fliegenklatsche auf die Holzbank unter dem Kruzifix, direkt neben ihre dicke Aktentasche. Mit umwölkter Stirn schaute der geschnitzte Jesus darauf hernieder. Als wüsste er, was für eine Hypothek sich darin verbarg. Marie hatte den ganzen Stapel an Unterlagen mitgenommen. Wenn sie unpopuläre Entscheidungen treffen musste, wollte sie das nicht tun, während Jessica ihr über die Schulter sah. Ab jetzt musste sie auf ihr eigenes Fortkommen achten. Marie nahm die Aktentasche und ihre Kaffeetasse und ging auf die Terrasse.
Auf dem alten Holztisch stand immer noch das Windlicht, das Roland und sie in glücklicheren Tagen aus Venedig mitgebracht hatten. Die Kerze war halb herabgebrannt, und in dem erstarrten Wachs, das sich um den gelben Kerzenstumpf gebildet hatte, steckten tote Insekten wie in Bernstein eingeschlossene Fossilien. Marie setzte ihre Tasse ab und schob das Windlicht beiseite, um Platz für die vier Aktenordner zu schaffen, die sie durchsehen musste.
Im ersten Ordner waren Kopien der Baupläne abgeheftet, die sie im Büro bereits kurz durchgeblättert hatte. Dazu Fotos und Bankunterlagen zum Projekt. Der zweite war die Pressemappe, von der Jessica gesprochen hatte. Zeitungsausschnitte und Ausdrucke waren säuberlich nach Medium und Datum beschriftet und sortiert. Der dritte und der vierte Ordner enthielten Korrespondenz.
Marie entschied sich zunächst für die Zeitungsausschnitte. Vielleicht waren ja ein paar Society-Artikel dabei, die sie noch nicht kannte. Bei gesellschaftlichen Anlässen achtete sie immer darauf, wo der Fotograf war, und dirigierte ihren Mann dann vor die Kameralinse. »Immobilienentwickler Roland Aschenbach und seine charmante Marie amüsierten sich prächtig bei soundso«, stand dann am nächsten Tag unter dem Foto
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