Totenkult
stapelten sich mit vergilbten Aufklebern versehene Holzkisten an einer Wand. Daneben stand ein aufgeklapptes Feldbett.
Als letztes Relikt einer geistlichen Vergangenheit hing an der Stirnseite des ehemaligen Altarraums zwischen zwei bleigefassten Spitzbogenfenstern ein Eisenkreuz. Jahrhundertelange Feuchtigkeit hatte den Rost gelöst, und ein braunrotes Rinnsal lief wie eine Blutspur die Wand hinunter.
»Na, was sagen Sie jetzt?« Henris Stimme war erfüllt von Besitzerstolz.
»Schön.« Hinter den Fenstern bewegten sich Schatten. Äste und Laub wiegten sich im Wind und hielten das meiste Tageslicht fern. Vor der Felsenkapelle musste Wald liegen. Das waren bestimmt die Bäume über der Felswand und damit über dem See. Wenn man diese altmodischen Fenster herausriss, musste der Ausblick einzigartig sein.
»Nur schön?« Henris Brauen schossen in die Höhe. »Das ist das alte Herz des Schlosses.« Er legte sich die Hand auf die Brust, dorthin, wo sein eigenes Herz schlug.
»Na ja, ich verstehe nichts von Kirchen.« Marie ließ ihren Blick herumwandern, in der Hoffnung, irgendwas Lobenswertes zu entdecken. Rund um die Tür war die Wand dunkel verfärbt. Ein schwarzer Strahlenkranz umgab das grobe Holzblatt. »Hat es hier mal gebrannt?«
Henri folgte ihrem Blick zur Tür. »Ja, natürlich. Grand-père hat eine Brandruine gekauft. Dann hat er das Schloss darauf gebaut.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke, dabei ist auch diese Kapelle verloren gegangen.«
Marie wandte sich den Holzkisten zu. Mehrere Aufkleber waren mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt. Andere waren zerrissen oder durch dunkelbraune Leimspuren und Zollstempel unkenntlich geworden. Das Holzgestell des Feldbettes war durch langen Gebrauch glatt geschliffen. Die Lederbänder, die es zusammenhielten, waren abgewetzt, ebenso die militärgrüne Leinenbespannung.
»Und was ist damit?« Sie deutete auf das Gerümpel. »Gehörten die Sachen Ihrem Großvater?«
»Das sind Expeditionskisten.« Henri hinkte in den Altarraum. »Wenn Sie sich unter die Fenster stellen, können Sie die Brandung hören.«
»Der Raum hat Seeblick, nicht wahr?« Jetzt war Maries Interesse wieder wach. »Wissen Sie was, das wäre hier ein originelles Frühstückszimmer.« Sie stellte ihre Tasche auf das Feldbett, trat zu Henri und lauschte. Tatsächlich, von hier aus klang der Wolfgangsee wie der Atlantik. »Das gibt’s ja nicht – so nah?«
Henri lächelte. »Direkt unter uns brechen sich die Wellen an der Falkenwand. Der Felsen trägt den Schall nach oben.«
Marie nickte. Die Kapelle versteckte sich also wie vermutet in dem Waldstück über dem Falkenstein.
»Leider gibt es keinen anderen Zugang, nur die Tür, durch die wir gekommen sind«, fuhr Henri fort. »Deshalb frage ich mich, wer ihn zugemauert hat. Und warum? Vielleicht liegt das Geheimnis … Moment, was war das eben?« Er hob den Kopf wie ein alter Jagdhund, der Witterung bekommt.
»Was denn?« Marie hatte nichts gehört. »Vielleicht ein Schwan da draußen?« Sie schaute hoch zu dem Spiel aus Licht und Schatten hinter einem der Fenster. »Widerliche Vögel, kreischen den ganzen Tag und setzen Ihnen riesige Haufen auf den Rasen. Die beißen auch. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass diese Biester Zähne haben? Gut möglich, dass –«
»Nein.« Henri hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Das Geräusch kam von der Tür.«
Marie dachte an das Rascheln, das sie bei der Affenstatue gehört hatte. Sie sah das scharfe Schwert in der mageren Affenpfote wieder vor sich. Ihr Mund wurde trocken. »Ich glaube, jetzt habe ich es auch gehört«, flüsterte sie. »Doch nicht etwa Ratten?« Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte, lieber Gott, lass es ein Gespenst mit dem Kopf unter dem Arm sein und keine Ratte.
»Sie bleiben hier und rühren sich nicht weg.« Henri humpelte eilig in Richtung Tür. »Mit all den Schätzen im Haus weiß man nie.«
»Passen Sie bloß auf sich auf«, rief Marie ihm nach.
Henris Antwort war ein unverständliches Brummen. Dann war er im Gang verschwunden. Die Tür ließ er einen Spalt offen.
Marie schlich auf Zehenspitzen zum Feldbett hinüber und setzte sich neben ihre Handtasche. Die Leinenbespannung war hart wie ein Brett. Sie rutschte ein wenig hin und her. Die vom Alter steifen Lederriemen knarrten beleidigt. Draußen wehte wohl der Wind, denn Zweige liefen wie die Finger eines Klavierspielers über die bleigefassten Butzenscheiben. Wahrscheinlich hatten sie
Weitere Kostenlose Bücher