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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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er, auf diese Weise das Ungleichgewicht seiner Beine auszubalancieren. Es sah aus, als wäre der Mann aus zwei Teilen zusammengesetzt – einem gesunden und einem kranken.
    Marie wollte ihre sperrige Handtasche schon in der Bibliothek stehen lassen, entschied sich dann aber doch dafür, sie mitzunehmen. Vielleicht fand das Mittagessen ja auf der Terrasse statt und sie kamen nicht mehr zurück. Henri, der sich trotz seiner Behinderung ziemlich schnell bewegte, war bereits draußen. Seine dozierende Stimme hallte auf dem Gang und wurde dabei leiser. Marie beeilte sich, ihm zu folgen. Vor der Tür blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren.
    Aus dem Augenwinkel erhaschte sie eine Bewegung, aber es war nur Cesario, der um eine Biegung des Ganges verschwand. Henri humpelte zu ihrer Rechten davon.
    »… sagten Sie bei Ihrem letzten Besuch, interessiert Sie am meisten?« Er war schon ein gutes Stück voraus, als Marie ihn einholte. »Chinaporzellan war’s, hab ich recht?« Er stieß eine Tür auf. » Voilà , nach Ihnen.«
    Marie machte einen Schritt über die Schwelle des Zimmers und blieb überwältigt stehen. Sie fühlte sich in eine Schatzkammer aus Tausendundeiner Nacht versetzt. In der Mitte des Raumes befand sich eine weiß lackierte Essgruppe, und die Wände waren in genau dem Türkis gestrichen, das Hermès für sein neues Seidenkaree gewählt hatte und für das sie schon auf der Warteliste stand. Das ganze Zimmer war angefüllt mit Chinoiserien. Auf kleinen Sockeln standen blau-weiße Vasen, in den Ecken hockten Fabeltiere, und von einem Bild über dem Kamin starrte sie ein goldener Drache aus rot glühenden Augen an.
    »Wahnsinn.« Wie in Trance betrat Marie den Raum und drehte sich einmal um sich selbst, um sich auch nichts von den Kostbarkeiten entgehen zu lassen. »Das ist ja wie bei Alice im Wunderland.«
    »Die Welt ist voller Schönheit, Madame.« Henri war in der Tür stehen geblieben und stützte sich mit den Händen im Rahmen ab. Vielleicht musste er sein Bein entlasten. »Und das Leben ist nur so kurz.«
    »Stammt das alles von Ihrem Großvater?« Ihre Vorfahren hatten ihre Zeit leider mit der Beschaffung von Nahrung verbracht und nicht der von Kunstschätzen.
    »Oh, das ist nur ein Bruchteil der Sammlung.«
    »Und alles in tadellosem Zustand.« Marie nickte.
    Hörte sie Henri hinter sich lachen? Marie drehte sich um und begegnete seinem Blick. Aber in seinen hervorquellenden Augen konnte sie keinen Ausdruck lesen. Marie trat zu einem der Fenster. In den tiefen Nischen standen bunte Porzellantiere und Tonsoldaten. Eine dicke Staubschicht lag auf dem Fensterbrett, es sah aus, als durchquere eine Karawane die Wüste. Ganz vorsichtig, um sich nicht schmutzig zu machen, beugte sich Marie über die Figuren und schaute aus dem Fenster. Zufrieden stellte sie fest, dass man auch von diesem Raum einen spektakulären Blick hatte. Sogar bis hinüber zur Halbinsel von Abersee. Die rote Seilbahn auf das Zwölferhorn wirkte von hier aus wie ein Kinderspielzeug.
    »Gehört dieses Zimmer zu einer Wohneinheit?«
    »Meinen Sie etwa eine Wohnung?« Jetzt lachte Henri wirklich. »Das ganze Haus ist eine Wohneinheit, Madame.« Sein Ton war ausgesucht höflich, aber Marie entging die feine Spur von Herablassung darin nicht.
    »Oh Gott, wie unpraktisch.« Angesichts des heruntergekommenen Zustands von großen Teilen des Schlosses hielt Marie Henris Arroganz für fehl am Platz. »Das wird nach dem Umbau alles anders, Sie werden schon sehen.«
    Henri zuckte mit den Schultern.
    Unter dem Fenster lag die Terrasse, auf der Marie bei ihrem ersten Besuch gesessen hatte. Sogar von hier aus konnte sie die Risse in den Steinplatten sehen. Auf den Korbmöbeln lagen zerlesene Zeitungen. Eine Brise vom See fächelte durch ein paar lose Seiten. Der Tisch war nicht gedeckt. Also würden sie wohl im Inneren des Schlosses essen. Eigentlich schade, aber vielleicht war dem alten Herrn die Hitze zu viel.
    Eine Bewegung in den Büschen erregte Maries Aufmerksamkeit. Schon wieder dieser grässliche Cesario. In grüner Schürze und einen Strohhut auf dem Kopf schnitt er ein paar Zweige voller weißer Rosenblüten ab. Dabei handhabte er die klobige Gartenschere auffallend geschickt. Offensichtlich hatte er sich auch um die Tischdekoration zu kümmern. Die gleichen weißen Rosen, zu einem prächtigen Strauß gebunden, hatte Henri als Gastgeschenk zu dem unseligen Gartenfest mitgebracht. Nun würde sie sie das ganze Mittagessen über vor Augen

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