Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
Vom Netzwerk:
waren zu Zöpfen geflochten und mit bunten Lederbändern umwickelt. In einigen steckten noch bunte Federn, deren Farben noch immer zu erahnen waren. Würde man das für ein Faultier tun? Ihr Hals wurde eng. Aber sie unterdrückte ihr Entsetzen. Sie war seit vielen Stunden eingesperrt und brauchte dringend irgendwas, um die Tür ihres Gefängnisses aufzubrechen. Sie musste jede noch so kleine Chance wahrnehmen.
    Entschlossen packte Marie eine Ecke der Pferdedecke und hob sie hoch. Sechs Gesichter schienen wie dunkle Blumen in einem Teich aus Haar zu schwimmen. Alle hatten die Augen geschlossen und den Mund vernäht. Ein Lippenpaar war noch dazu grausam von Holzpflöcken durchbohrt, als wollte man sichergehen, dass kein einziges Wort mehr den Weg in die Welt der Lebenden fand.
    In diesem Moment hörte sie ein gedämpftes Scharren hinter ihrem Rücken. Jemand war auf dem Gang. Rasch klappte sie den Deckel der Kiste zu. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür ging auf.
    Henri.
    Marie machte ein paar Schritte in seine Richtung. »Oh, Gott sei Dank«, stammelte sie. »Sie leben.«
    Henri musterte sie mit seinen Froschaugen.
    »Was ist denn passiert? Ich dachte schon, ich müsste ewig hierbleiben. Sind Sie …?« Die Worte blieben ihr im Hals stecken.
    Langsam kam Henri auf sie zu. Er trug Jeans und ein Khakihemd. Und er war frisch rasiert. Überhaupt wirkte er ausgeruht und entspannt. In der einen Hand trug er eine Wasserflasche, auf deren Hals ein umgestülptes Glas saß. In der anderen hielt er einen gelben Zierkürbis, wie Marie ihn gerne für ihre Herbstdekorationen verwendete.
    Er hinkte an ihr vorbei. Vor den Kisten blieb er stehen und musterte sie, als überlegte er, für welche von ihnen er sich entscheiden sollte. Schließlich stellte er beides, die Flasche und den Kürbis, auf den Deckel mit den chinesischen Schriftzeichen. »Sie werden sicher etwas trinken wollen?«, erkundigte er sich in leichtem Plauderton, als wollte er nur wissen, ob sie einen Aperitif vor dem Dinner wünsche.
    »Ich will nichts trinken – wo sind Sie denn gewesen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
    Henri schüttelte nur den Kopf und seufzte tief.
    »Was jetzt? Gehen wir endlich.« Marie schaute sich nach ihrer Handtasche um.
    »Wir gehen nicht, zumindest noch nicht.«
    »Was? Wieso denn?« Marie machte eine Handbewegung zur Tür. Henri hatte sie nur angelehnt. »Mir reicht’s. Ich bin fix und fertig. Außerdem habe ich die ganze Nacht mit diesen Schrumpfköpfen da drüben verbracht.«
    Henris Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wie haben Sie die Kisten denn aufbekommen?«
    »Nur die eine. Ging ganz leicht.« Das war doch jetzt wohl nicht sein Ernst, dass er sie wegen ihrer Neugier tadeln wollte. »Der Riegel war schon offen.« Sie deutete mit dem Kinn auf die grässliche Kiste. »Sie können gerne mal reinschauen.« Ihr reichte es. Ihr gesamter Körper tat weh, und ihre Augen juckten, als hätte jemand Sand hineingestreut. Sie war todmüde. »Sie entschuldigen«, Marie schnappte sich ihre Handtasche und ging auf die Tür zu, »aber ich gehe jetzt nach Hause.« Sie hatte gerade drei Schritte gemacht, als Henris Stimme sie zurückhielt.
    »Bleiben Sie lieber hier«, sagte er freundlich, als erteilte er einen wohlgemeinten Rat. »Sie würden nicht weit kommen, sondern nur Cesario in die Arme laufen. Und der versteht keinen Spaß.«
    Marie wandte sich um. Ein Grinsen lag auf Henris Gesicht, das etwas Mitleidiges hatte. »Was heißt das?«
    Henri hob das Glas von der Flasche und stellte es auf den Kistendeckel. Er schenkte es halb voll mit Wasser. »Ein Wink von mir genügt, und er wird sie töten.« Er überlegte. »Vielleicht braucht es nicht einmal einen Wink. Cesario ist sehr intelligent.« Es klang, als spräche er von seinem Hund.
    Marie zweifelte nicht an seinen Worten. »Mich – töten? Warum denn, um Gottes willen?«
    Sie sah das wie in Bronze gegossene Gesicht des Dieners vor sich. Die scharfe Gartenschere in seiner Hand. Das lange Küchenmesser im Bund seiner Schürze. Auch wenn Cesario kein Pistolenholster trug, hatte Henri stets einen bewaffneten Bewacher um sich. Es war nur nicht so offensichtlich. Das Licht um sie schien auf einmal diffuser, die Heiligen verschwanden hinter Nebelschleiern. Das konnte nicht sie sein, die in einer feuchten, alten Kapelle festsaß. Zusammen mit dem durchgeknallten Schlossherrn. Nur die Ruhe. Die Lage war ernst, aber nicht aussichtslos. Wie oft war sie durch geschicktes Verhalten

Weitere Kostenlose Bücher