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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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Schlagen der Wellen wurde ihr zur Qual, genau wie die Feuchtigkeitsflecke in den Wänden, die die Nässe gespeichert hatten, aber nicht mehr hergaben.
    Wenn sie hier liegen blieb, würde sie sterben. So einfach war das. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten, sie musste sich selbst befreien. Marie schaute sich um. Die Gesichter der Heiligen waren unbewegt. Das rostige Eisenkreuz stach schwarz von der Wand ab. Das Licht hinter den gotischen Fenstern war grau. Sie bemerkte, dass ein paar kleine Scheiben aus ihren Bleifassungen gebrochen waren. Daher also die Kälte in der Kapelle. Sie konnte von Glück sagen, dass Sommer war. Im Winter wäre sie schon erfroren.
    Die Fenster lagen zu hoch, um sie als Fluchtweg zu nutzen. Sie könnte die Scheiben höchstens erreichen, wenn sie ein paar von den Expeditionskisten darunterschob. Marie musterte den hölzernen Stapel. Nein, es waren zu wenige. Außerdem war sie nicht stark genug, um sie aufeinanderzuhieven. Aber vielleicht lagerte in den Kisten etwas, das sie brauchen könnte. Sicher enthielt wenigstens eine von ihnen irgendwelches Werkzeug. Mühsam rappelte sie sich hoch. Ihre Muskeln schmerzten vom langen Liegen auf dem harten Feldbett. Sie tappte über den kalten Sandsteinboden.
    Die oberste Kiste hatte chinesische Aufkleber. Marie versuchte, einen Finger zwischen Deckel und Seitenwand zu schieben. Vergebens. Der Deckel war fest zugenagelt. Die Nägel hatten sich in das weiche Holz gegraben und dabei rostige Abdrücke hinterlassen. Diese Kiste bekam man nur mit einem Stemmeisen auf.
    Sie wandte sich der nächsten zu, auf der rote Zollstempel und ein von Leimspuren gezeichnetes Adressschild klebten. »Porto de …« Das nächste Wort konnte sie nicht entziffern. Doch diese Kiste hatte nur einen Riegel. Das Metall war angelaufen und stumpf, aber bei genauer Betrachtung fielen Marie ein paar glänzende Kratzer auf. Die Kiste war bereits einmal geöffnet worden. Schnell packte sie den Riegel und zog ihn ohne große Mühe hoch. Na bitte, ging doch. Sie kniete sich auf den harten Boden, klappte den Deckel auf und beugte sich über die Kiste. Ihr Inhalt lag unter einer grauen Decke verborgen, die einen schwachen Pferdegeruch verströmte. Marie packte eine Ecke des dicken Stoffes, schlug sie zurück – und schnappte nach Luft.
    Keinen Meter vor ihr lag der Kopf eines Menschen. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund und wehrte sich gegen das Würgen in ihrer Kehle. Es konnte sich nur um den Teil einer Puppe handeln. Kein Forscher verschiffte Kisten mit Leichenteilen. Sie zwang sich, wieder hinzuschauen, und blickte auf die zusammengekniffenen Augen eines lederartigen Gesichtes. Geschwungene Brauen überwölbten seidige Wimpern. Die Nasenlöcher waren zu Nüstern geweitet. Jemand hatte die Lippen durchstochen und sie mit kunstvoll geflochtenen Schnüren verknotet, sie für alle Ewigkeit zum Schweigen verdammt. Eine Flut stumpfen braunen Haares ergoss sich zu beiden Seiten des gemarterten Schädels. Der ganze Kopf war nur faustgroß. Aber es war keine Puppe.
    Marie sprang auf und rannte zum Feldbett zurück. Schnell setzte sie sich auf die Ecke, die von der Kiste und ihrem grauenhaften Inhalt am weitesten entfernt war. Sie zog die Beine dicht an den Körper, umschlang sie mit den Armen und stützte das Kinn auf die Knie. Sie zitterte am ganzen Körper und hätte am liebsten wie eine Irre losgeschrien.
    Der Mexikourlaub mit Roland tauchte am Horizont ihrer Gedanken auf. »Schrumpfkopf«, flüsterte sie. »Das ist nur ein Schrumpfkopf.«
    Sie lachte. Erst leise, dann immer lauter, bis sie selbst hörte, wie hysterisch sie klang, und verstummte. In der Felsenkapelle ängstigte sie ihre eigene Stimme. Wie Kirchengesang füllte sie den Altarraum und verlor sich irgendwo im Deckengewölbe.
    Marie schob die Beine über den Rand des Feldbetts und fixierte die Kiste. Darin war so ein Dings, wie sie es auf einem Wochenmarkt irgendwo in Mexiko zwischen Hühnerkäfigen und Stapeln von Sombreros gesehen hatte. Die dicke Verkäuferin hatte den Schrumpfkopf aus einer gewebten Decke gewickelt und furchtbar geheimnisvoll getan. Aber Roland hatte behauptet, Touristen würden eh nur präparierte Faultierköpfe angedreht. Er hatte sich geweigert, ihn zu kaufen. Sogar im Hotelshop hatte es putzige Schlüsselanhänger mit Schrumpfköpfen gegeben. Allerdings aus grell bemaltem Plastik.
    Marie ging zu der Kiste zurück. Der Tote schlief still inmitten der Masse dunklen Haares. Ein paar Strähnen

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