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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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schien nicht zu wissen, dass Cesario schon im Gang wartete. Auf keinen Fall durfte er es erfahren. Sonst war ihr Schicksal gleich besiegelt. Hör dir an, was der Irre zu sagen hat, vielleicht gibt es ja doch noch eine winzige Chance. Marie wischte sich die Tränen weg und fuhr sich mit der Hand unter der Nase entlang. Dann drehte sie sich um.
    »Und jetzt?« Sie legte so viel Kälte wie möglich in ihre Stimme. Das gab ihr Sicherheit und machte ihren Kopf wieder ein wenig klarer. »Schluss mit dem Theater.«
    »Das ist kein Theater, dies hier ist Ernst.« Henri zeigte auf das Wasserglas und den Kürbis. »Schuldige müssen bestraft werden. Sonst gibt es keine Gerechtigkeit, das verstehen Sie doch? Wenn ich jetzt gleich hinausgehe, werde ich die Tür hinter mir verschließen.«
    Marie starrte ihn wortlos an. War das hier ein Tribunal? Sie fühlte sich wie eine Angeklagte, die ihr Urteil erwartete. Und Henri war ihr Richter und Henker in Personalunion.
    »Für immer verschließen, Madame.«
    »Quatsch.« Einen irren Moment lang wollte sie lachen. Sein Pathos war aber auch zu komisch. »Das heißt, ich werde lebendig eingemauert? Wie in Schlössern üblich? Ich bitte Sie, Henri, wenn Sie ein neues Gespenst brauchen …«
    »Das liegt ganz bei Ihnen.«
    Marie war so erleichtert, dass ihre Knie weich wurden. Sie war das Opfer eines Sadisten, aber unter einer bestimmten Bedingung würde er sie entkommen lassen. Sie würde jeden Preis zahlen. Und sich dann fürchterlich rächen. »Was soll ich tun?«
    »Bravo, Madame, ich schätze Haltung in jeder Lebenslage.« Er schmunzelte über seine eigene Wortwahl.
    »Ich weiß nicht, was daran so lustig ist.«
    »Natürlich nicht, Madame, und Ihre Haltung wird – so fürchte ich – auch nicht mehr lange andauern. Also – Sie können hier noch tagelang vor sich hinvegetieren. Mit Wasser auch länger.« Er machte eine kurze Pause. »Oder Sie tun sich einen Gefallen und nehmen das Gift.«
    »Ich?« Er war wahnsinnig.
    Henri lächelte wie ein charmanter älterer Herr im Gespräch mit einer Dame. »Ja, Sie selbst, Madame.«
    »Warum sollte ich …?«
    »Weil Sie Ihren Mann getötet haben, Madame, deshalb«, sagte er in sanftem Tonfall. »Beweisen Sie der Welt, dass Sie bereuen, was Sie getan haben.« Die Heiligen an den Wänden umstanden ihn wie einen Priester, der Sühne und Vergebung offerierte. Ein Heiliger im roten Mantel hatte die Hand wie zum Segen erhoben.
    »Was – nein .«
    »Die Wahl liegt natürlich bei Ihnen.« Er zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und ließ ihn am Ring hin und her pendeln. »Es ist nur ein Angebot.«
    »Sie können … mich doch nicht … einfach …« Umbringen, hatte sie sagen wollen. Aber natürlich wusste sie, dass er sie nicht lebend davonkommen lassen konnte. Er war überzeugt von der Richtigkeit seines Tuns.
    Henri ließ den Schlüssel sinken. Ruhig sagte er: »Es gibt eine Ordnung, die über dem Gesetz steht, das die kleingeistigen Menschen erfunden haben, Madame.« Sein Blick glitt zu den Expeditionskisten. Bis auf eine waren alle noch fest vernagelt und hüteten ihre Geheimnisse. »Es braucht Mut und Visionen, um nach seinem eigenen Recht zu leben. Ohne Visionäre säßen wir noch immer in Höhlen und fräßen unsere Nachbarn.« Offensichtlich betrachtete er sich als einen dieser Visionäre. »Auch für den Fortschritt der Wissenschaft muss man Opfer bringen, Madame.«
    »Und ich soll so ein Opfer sein?«, fragte sie. »Für die Wissenschaft?«
    Ein Windstoß fuhr durch die zerbrochenen Fensterscheiben. Kalte Luft, die nach Wald und nach See roch, verbreitete sich in der Kapelle. Über Maries bloße Arme lief ein Schauer.
    Henri lachte wieder sein keckerndes Ziegenbocklachen. »Für die Wissenschaft sind Sie völlig unbedeutend, Madame, nichts als ein kurzlebiges Insekt.« Seine gute Laune zerrte an Maries Nerven. »Aber auch so ein Insekt kann äußerst lästig sein.« Henri kam auf sie zu. Er zog sein steifes Bein nach, seine muskulösen Arme waren leicht abgespreizt. Bereit zuzupacken. Marie hatte keine Chance. Und draußen wartete Cesario. Mit seinem Messer. »Ich werde Sie jetzt verlassen, Madame.«
    Marie sah Henri entgegen. Er fixierte sie mit seinen kalten Fischaugen, als wollte er sie hypnotisieren. Auf einmal konnte sie seine Nähe nicht mehr ertragen. Sie schlich an ihm vorbei und in die Felsenkapelle zurück. Die verstümmelten Heiligen starrten ihr mitleidlos entgegen. In der Brust des heiligen Sebastian steckten zahllose

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