Totenkult
Roland und seinen Wutausbrüchen entkommen. Sie hatte Routine im Umgang mit unberechenbaren Männern. Der Gedanke gab ihr Sicherheit. Der Nebel um sie herum lichtete sich. »Na schön.«
Sie trat weg von der angelehnten Tür und machte einen Schritt auf Henri zu, um ihr Entgegenkommen zu signalisieren. »Also, was machen wir zwei dann hier noch?«
Henri nahm den Kürbis und schwenkte ihn wie einen Cocktailshaker. Er umfasste den Korken, der den Hals verschloss, überlegte es sich dann aber offenbar anders und stellte den Kürbis neben die Wasserflasche. Er sagte: »Wir nicht – Sie, Madame.« In seiner Stimme schwang Bedauern. »Ich habe wirklich versucht, diese Eskalation zu vermeiden, glauben Sie mir.« Mit dem Zeigefinger fuhr er einen grünen Streifen auf dem Kürbis nach. »Ich habe Sie beobachtet, und das, wenn Sie mir erlauben, das zu sagen, durchaus mit Vergnügen.«
»Beobachtet?«
Henri nickte. »Wir sind uns ähnlich.«
»Ach ja.« Er war noch durchgeknallter, als Marie gedacht hatte. »Tatsächlich?«
»Wir tun alles, um unsere Interessen durchzusetzen. Sie nur für einen vollen Teller, ich dagegen für einen höheren Zweck.« Henri ließ seinen Blick über den Kistenstapel wandern. Dann richtete er seine Chamäleonaugen wieder auf Marie. »Sie sind mir gleich aufgefallen. Schon das erste Mal, als ich die Ehre hatte, Sie in meinem Haus begrüßen zu dürfen.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich erkenne Skrupellosigkeit auf den ersten Blick«, sagte er beifällig.
»Jetzt reicht’s aber«, sagte Marie. »Beleidigen lasse ich mich –«
Er hob schnell die Hand, um ihrem empörten Einwand zuvorzukommen. »Nein, nein, Madame, das ist keine Kritik.« Er schob die Hand in die Tasche seiner Jeans und klimperte mit etwas darin herum. »Ich habe mich gefragt, wie weit Sie wohl gehen würden.«
Marie hatte ein kratziges Gefühl im Hals. »Wie meinen Sie das?« Sie räusperte sich.
»Sie haben sich sofort das Buch über die Giftpflanzen ausgeliehen.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Gärtnerin aus Liebe macht so etwas nicht, ma chère . Aber Liebe war ja auch nicht Ihr Motiv, habe ich recht?«
Marie versuchte zu schlucken, aber ihre Kehle war zu eng. Sie hob das Kinn und erwiderte seinen Blick.
»Für wen waren Ihre Kenntnisse denn gedacht?« Henri neigte den Kopf zur Seite. Er verurteilte sie nicht. Er wollte es nur wissen.
Marie rang sich zu einer Antwort durch. »Für niemanden.« Sie musste hier raus. »Lassen Sie mich gehen.«
Er plauderte einfach weiter, als bemerkte er ihre Beklemmung gar nicht. »Von da an hatte ich Sie im Auge.«
»Wirklich.« Maries Beine fingen unkontrollierbar an zu zittern. Hastig ging sie zum Feldbett und setzte sich, ehe ihre Knie nachgaben. Sie legte die Hände in den Schoß. Ihre Finger krümmten sich und schlossen sich zu Fäusten. »Haben Sie mich verfolgt? Waren Sie das etwa?«
Henri zögerte, dann sagte er: »Nein, aber ich bin Ihnen während Ihres ganzen Gartenfestes nachgegangen.« Er drohte ihr mit dem Zeigefinger und zwinkerte ihr dabei zu. »Ich wollte zu gern wissen, wie Sie’s anstellen würden. Chapeau , Madame.«
Marie biss die Zähne zusammen. »Lassen Sie mich raus.«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Chance.« Auf einmal war seine Stimme ernst, jeder Charme war verflogen. »Aber Sie haben recht, bringen wir es zu Ende.« Er fasste hinter sich nach dem Kürbis und hielt ihn hoch. »Curare«, sagte er. »Ich denke, Sie wissen, was das ist.«
Gift. Marie spürte einen Stich in der Brust. »Wollen Sie mich vergiften?«
Henri verdrehte die Augen. »Natürlich nicht.«
Marie atmete auf. »Was soll dann …?«
»Sie werden es selbst tun.«
»Was?« Marie sprang auf. »Sie sind ja irre, Sie sind …« Sie drehte sich um und rannte zur Tür. Riss sie auf, lief auf den Gang – und blieb wie angewurzelt stehen. Im schwachen Licht, das durch die Schießscharte unter der Felsendecke fiel, erkannte sie am Ende des Ganges eine geduckte Gestalt. Jemand kauerte im Schatten, verschmolz fast mit der unebenen Wand. Dort hinten lauerte Cesario, die Wache, die sie an der Flucht hindern sollte. Henri hatte an alles gedacht. Es war vorbei. Marie sprang zurück in die Kapelle und knallte die Tür zu. Sie lehnte die Stirn gegen das rissige Holzblatt und fing an zu weinen.
Nach einer Weile hörte sie wieder das gedämpfte Klimpern in Henris Tasche. »Das war eine gute Entscheidung. Sie hätten den Weg nach draußen sowieso nicht gefunden.«
Henri
Weitere Kostenlose Bücher