Totenkuss: Thriller
in einem
verstaubten Verschlag auf der Bühne gefunden, heruntergeholt und die halbe
Nacht lang sortiert. Josef Kern, Olaf Hahnkes Großvater, hatte als Polizist
offenbar ein großes Interesse am Fall des Schwarzwälder Serienmörders Heinrich
Pommerenke entwickelt. Und das Material bei seiner Mutter endgelagert, wo Olaf
es fand und gründlich studierte. So viel war klar. Hahnke hatte bei seinem
Treiben einem Vorbild nachgeeifert. Sein erstes Opfer war Petra Clauss. Er war
damals 14. War er einsam geblieben mit seinem Wissen? Hatte er die Ersttat
allein ausgeführt? Oder hatte er einen Helfer gehabt? Einen Komplizen, Kumpel?
War Timo Fehrle von Olaf ins Vertrauen gezogen worden? Hatte er zögerlich
mitgemacht? Fiebernd? Oder war das eine Schnapsidee. Aber wieso hatte niemand
die Verbindung gesehen zwischen Pommerenke und dem Mantelmörder? Hatte die
Kripo den Vergleichsfall gefunden, aber nicht publiziert? Warum musste
ausgerechnet Rosa darauf stoßen? Und wieso hatte sie die verdammte Kiste nicht
eher gefunden? Ganz einfach, sagte sich Rosa. Weil ich sie nicht gesucht habe.
Die Mittagsglocke läutete und Fetzen von Gebimmel drangen
bis in den Garten. Im Schatten der Bäume aß sie Nudeln mit gebutterten
Frühlingszwiebeln und Bärlauch, dazu Salat aus dem letzten essbaren Löwenzahn
und Sauerampfer. Auf den Muckefuck trank sie Brennnesseltee. Das eine zügelte
den Appetit, das andere regelte die Verdauung. Es war ein Bilderbuchtag. Vor
die Sonne schoben sich Schönwetterwölkchen, und die Kreuzotter Kriemhild, die
sich auf einem flachen Stein zusammenringelte, leistete ihr Gesellschaft. Ein
göttlicher Moment. Trotzdem war Rosa flau im Gemüt. Obwohl sie absolut klar im
Kopf war und den Sachverhalt kühl betrachtete, wie Tiberius sie das 40 Jahre
lang gelehrt hatte, wusste sie sich keinen rechten Rat. Was sollte sie tun mit
den zwei Kisten? Auf gar keinen Fall wollte sie Karle einbeziehen, der zum
Jähzorn neigte. Er hatte mehr als genug Knarren im Schrank. Sie musste ihn
hinhalten und das tat sie am besten persönlich. Nach dem Abspülen suchte sie
den Autoschlüssel, den sie genauso oft verlegte wie ihr Portemonnaie und die
Lesebrille. Aber sie fand ihn nicht, und so machte sie es sich eine Weile auf
dem Liegestuhl im Halbschatten gemütlich. Über ihr knisterte leise die Wäsche.
Als Rosa aufwachte, war sie vollends durcheinander. Sie kam
sich vor, als habe ein Schleier sich über ihr Bewusstsein gelegt. Zunächst
wusste sie nicht, welchen Tag man hatte, sie wusste nicht einmal, wo sie war,
sondern erkannte den längst abgerissenen Hof ihrer Kindheit wieder. Vor ihr
stand Tiberius mit einem Skalpell und mahnte, sie solle sich zusammenreißen.
Der Fall erfordere all ihre kombinatorische Kraft und sie möge schon mal den
Bleistift anspitzen. Er öffnete die Kühlraumtür, das Aggregat sprang an, und
das Leintuch hob sich und wedelte. Tiberius schlug es zurück. Rosa erschrak.
Auf dem Seziertisch lag ihre Mutter Qualberta. Die Leiche war vollständig
erhalten, mit den charakteristischen violetten Kälteflecken an den Streckseiten
von Knien und Ellenbogen, die auf einen Erfrierungstod hindeuteten. Sie war
kahl, nackt und ausgemergelt, und am Unterarm trug sie eine tätowierte Nummer.
Sie besagte, dass Qualberta im KZ gewesen und in der Gaskammer tiefgefroren
worden war. Rosa schrie auf und merkte, dass sie gar nicht aufgewacht war,
sondern eingeschlafen. Wolken zogen. Es windete.
Zusammengekauert lag sie in ihrem Liegestuhl und fror. Sie
fühlte sich verloren und wollte zurückkriechen in Qualbertas speckigen Schoß.
»Suizidales Höhlenverhalten«, sagte Rosa laut und sprang auf, sie dachte an die
Rechtsmedizinische und sah Tiberius vor sich, der tadelnd den Kopf schüttelte.
Am Warnruf einer Amsel, die schnarrte wie ein elektronischer
Wecker, merkte Rosa, dass Kafka in der Nähe umherstreifen musste. Auf dem Baum
war ein Nest, doch das war Kafka egal. Seitdem er keine Eier mehr hatte, war
sein Jagdtrieb wie gelähmt. Da er nicht mehr ficken konnte, weigerte er sich zu
töten. Er war zum Veganer mutiert, hielt seine sozialen Kompetenzen ansonsten
aber aufrecht. Obwohl er mit einer rolligen Kätzin nichts anfangen konnte, fiel
er nächtens ein in den kollektiven Katergesang. Und er sang auch allein. Sein
Treiben war nicht zielgerichtet und sinnlos. Rosa sah darin die Anfänge der
Kultur. Sie horchte, ob er in den Büschen lauerte und dabei vor sich hin
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