Totenkuss: Thriller
grollte. Das Trafohäuschen surrte. Daneben brummte es schubweise. Eine Biene
versenkte sich viermal hintereinander in die gleiche Blüte. Zur Not werde ich,
beschloss Rosa, die Wahrheit mit ins Grab nehmen. Es steht mir nicht zu, sie zu
verkünden. Selbst Tiberius hatte nie geurteilt. Er hatte die Leichen zum
Sprechen gebracht, indem er sie außen und innen der Besichtigung unterzog,
Kopfhöhle, Brusthöhle, Bauchhöhle. Sie verrieten ihm alles, was ihnen zu
Lebzeiten widerfahren war. Schläge, Qualen, Verstümmelungen, Folter. Für das
Urteil waren später die Gerichte zuständig. Auch Olaf Hahnke und sein Komplize,
so es einen gab, würden ohne Rosas Zutun für ihre Taten vor Gericht gestellt
werden, und sei es auch nur vor das Jüngste. Im Fegefeuer herrscht Klärung. Das
Leben birgt Rätsel genug. Wenn Olaf und Timo, zwei gsälzbrotverschmierte Buben,
das Mädchen Petra Clauss nach einer gewaltsamen Tötung fortgeschafft hatten,
wieso ist dann aus dem einen ein sadistischer Serienmörder geworden und aus dem
andern ein Polizist?
»Es geht mich nichts an«, sagte Rosa laut. Eine wandernde
Wolke gab die Sonne frei, augenblicklich wurde es wärmer. Rosa legte sich
wieder hin. Sie brachte mehrere Stunden damit zu, das unerhört zügige Aufblühen
der Johannisbeeren zu betrachten.
In der Nacht schlief Rosa schlecht, und sie fragte sich immer
wieder, wie sie auf den Traum mit dem Konzentrationslager gekommen war. Zwar
war der Vater ein Fabrikler, Gewerkschafter und Sozi gewesen und die Mutter
eine Wallfahrerin für Bischof Sproll. Und beide hatten die Nazis behandelt wie
ein verrotztes Sacktuch, was nicht vollends spurlos an ihnen vorbeigegangen
war, aber Rosa konnte sich an nichts entsinnen, was diesen Alptraum
gerechtfertigt hätte. Sie wälzte sich in ihrem Deckbett. Schließlich beschloss
sie aufzustehen und hinauf auf den Alten Mariabronner Friedhof zu gehen. Am
Familiengrab würde sie Zwiesprache mit den Ahnen halten. Mit Qualberta, die in der
zugigen Kammer erfroren war, während Rosa in der Rechtsmedizinischen zur
Schwingsäge griff.
*
An Allerheiligen schneite es. Schon in der Nacht
roch es nach Schnee und an der Friedhofsmauer hob der Flüchtlingshund die
Lefzen. Die Steine waren uralt und schadhaft und darauf war kaum noch etwas zu
entziffern. Am frühen Morgen wehten längliche Fetzen durch die Luft, fielen
herunter und stiegen wieder auf. Der Himmel entzog sich. Kaum ging ein Wind.
Der Friedhof war in ein wässriges Grau gehüllt, in der Thujahecke wucherten
mannsgroße Löcher, auf den Wegen quoll aufgeworfener Schmutz. Die Flocken sogen
sich mit Dreck voll und schmolzen. Wo die Erde eingesackt und hart war,
bildeten sich Lachen. Der Nadelkranz, der am Kriegerdenkmal lehnte, bog schwer
seinen Rücken und schmiegte sich an das gigantische Kreuz. Es stand mitten auf
einem leeren Platz, wo derer gedacht wurde, die es nicht mehr bis zur letzten
Heimstatt geschafft hatten: den Gefallenen, Vermissten. Ihnen hielt man die
markante Baulücke im Zentrum frei, umringt von den Pfarrern, weitab vom Volk,
in ausgezeichneter Lage, falls sie eines Tages doch noch in die Gräber
sprangen.
Es war der Feiertag, an dem die Toten der noch Lebenden
gedachten, und dazu traf man sich auf dem Gottesacker. Es lief immer gleich ab:
Gegen Mittag hob der gewaltige Herrgott den Bronzeblick. Die Temperaturen
sanken. Auf den Gräbern, die sauber gerichtet waren, sammelte sich eisiger
Blütenguss. Auf den Gestecken und Ewigen Lichten und Weihwasserschalen härtete
sich ein matt glitzernder Film. Unverdrossen tanzte der Schnee und legte sich
auf die frierenden Fußstapfen der Anverwandten, deren aufgedunsene Ränder dem
Frost widerstanden. Im benachbarten Flüchtlingshaus ging oben eine Tür auf. Der
Hund trat auf den Balkon und witterte. Unten wurde gelüftet.
Bratkartoffelgeruch mengte sich in die steifer werdende Kälte. Der Schnee fiel
dichter und blieb liegen.
Am frühen Nachmittag trugen die Christusse auf den steinernen
Grabkreuzen weiße Mützen. Der Grabschmuck verschwand und alles Vorläufige wurde
verhüllt von einer losen, die Ewigkeit einschließenden Masse. Die ersten Witwen
kamen, um nach dem Rechten zu sehen, gebückt, tatternd, die eine Hand im Kreuz,
die andere bebend am Stock. Die Fingerspitzen in den fadenscheinigen
Handschuhen waren blau. Die alten Weiber trugen anthrazitfarbene, wadenlange
Mäntel und Kopftücher. Ihr Schuhwerk war robust,
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