Totenmesse
Was heiÃt das?«
»Ich habe es an dich geschickt«, sagte sie. »MMS.«
Er starrte sie eine Weile an. Dann verlieà er das Schlafzimmer.
Die Jacke lag noch so im Garderobenschrank, wie er sie hineingeworfen hatte. In der Innentasche steckte sein Handy. Ein verpasstes Gespräch und eine Nachricht. Das verpasste Gespräch war von Kerstin Holm, die Nachricht von Cilla. Vorsichtig klickte er die Nachricht an und bekam ein Bild. Ein Beamter der Nationalen Einsatztruppe stand zwischen zwei Männern, die Masken übers Gesicht gezogen hatten. Der Beamte klappte sein Visier hoch.
Er stieà ein Lachen aus und nahm das Handy mit ins Schlafzimmer. Er legte sich neben Cilla. Sie hatte ein Taschentuch geholt und tupfte damit behutsam seine Stirn ab.
Erst da brach er in Tränen aus.
25
Arto Söderstedt konnte nicht schlafen. Das war ungewöhnlich. Sonst schlief er immer wie ein Baumstamm.
Ein Krieg hatte begonnen, in dem die westliche Welt den ersten wirklich drastischen Schritt in jenen Teil der östlichen Welt tat, der binnen Kurzem auf den letzten Ãlreserven des Erdballs sitzen sollte. Und halb Stockholm war von ein paar Russen mit undurchsichtiger Zielsetzung in Angst und Schrecken versetzt worden. Alles an einem Tag.
Doch zu seiner Schande sei es gesagt, dass nicht das der Grund seiner Schlaflosigkeit war.
Der Grund dafür war ein Schreibtisch.
Genauer gesagt, ein deutscher Barockschreibtisch, vermutlich 1764 in der Werkstatt des angesehenen Möbeltischlers Weissenberger in Leipzig hergestellt.
Söderstedt hatte ihn am Abend bei einem unbedeutenden Nachfolger Weissenbergers in einem Keller in der Ã
sögatan abgeholt. Zu einem beschämend niedrigen Preis hatte der alte Handwerker innerhalb weniger Tage ein falsches Bein und mehrere fehlende Griffe und Knöpfe ersetzt sowie ein paar tiefere Risse beseitigt.
»Es ist ein Meisterwerk«, war alles, was der Alte mit leuchtenden Augen sagte, als Söderstedt zu den jämmerlichen Hundertern noch zwei drauflegte.
Und es war in der Tat ein Meisterwerk.
Es stand in der Ecke des Wohnzimmers, von vier ächzenden professionellen Möbelschleppern dorthin befördert, deren Spezialität es war, Flügel in Dachwohnungen zu wuchten.
Bevor sie das Prachtstück absetzten, fragte einer von ihnen todernst: »Sind Sie sicher, dass der FuÃboden hält?«
Söderstedt betrachtete verwundert den robusten JahrhundertwendefuÃboden in der engen Fünfzimmerwohnung in der Bondegatan, in der er mit seiner groÃen Familie lebte.
Der FuÃboden hielt besser stand als er selbst vor den schiefen Blicken seiner Frau Anja.
»War er so gro�«, war alles, was sie sagte. Aber die Art, wie sie es sagte. In einem Ton, als hätte der Ehemann darauf bestanden, mindestens zwei Geliebte im gemeinsamen Schlafzimmer unterzubringen.
Dagegen würdigte keines seiner fünf Kinder den Schreibtisch auch nur eines Blickes. Normalerweise hätte er ihnen in gutmütiger Form ihr mangelndes Interesse an den wirklich guten Dingen des Lebens vorgehalten, doch in diesem Fall wartete er ganz einfach darauf, dass sie ins Bett gingen.
Alle sechs.
Es dauerte und dauerte. Am Ende verbot er sogar seiner ältesten Tochter Mikaela â achtzehn Jahre alt und in einem Zustand anhaltender Empörung darüber, dass Papa ihr keine eigene Wohnung in der Nähe kaufen konnte â, die Wiederholung der Dokusoap Extreme Makeover anzusehen (die in ihrer Unsäglichkeit noch die prophetischen Vorwegnahmen gewisser Schriftsteller übertraf). Mikaela starrte ihn tief gekränkt an und sagte: »Ich bin ja wohl volljährig.«
»Aber du zahlst keine Miete«, sagte Arto Söderstedt.
Er sah die noch lange bebende Tür ihres Mädchenzimmers an, aus dem sie längst herausgewachsen war, und dachte: Dass immer alles seinen Preis haben muss.
Doch sein schlechtes Gewissen war ziemlich gekünstelt.
Es war schon nach ein Uhr, als er endlich die lustvolle Untersuchung des alten Schreibtischs in Angriff nehmen konnte.
All diese wunderbaren Fächer und Schubladen und Ãffnungen und Falze und Intarsien und Regalfächer und Irrwege. Es war der labyrinthische Traum des Barock, dass alles möglich und zugleich unzugänglich war. Es musste derEhrgeiz des Möbeltischlers Weissenberger gewesen sein, die Welt in seinem Schreibtisch unterzubringen. Der Makrokosmos im Mikrokosmos.
Alles war da.
Arto
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