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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Söderstedt war verblüfft über die raffinierten Mechanismen und trickreichen Vorrichtungen, die es erlaubten, dass Fächer auf die ausgefallenste Weise geöffnet werden konnten. Fächer enthielten andere Fächer, Regalpartien entfalteten sich, Schubladen klappten zusammen oder wurden einwärts oder auswärts gewendet und nahmen neue Formen an, die in bis dahin unentdeckte Nischen im Holz passten. Der gesamte Schreibtisch schien seine Form ändern zu können, je mehr der Benutzer Einsicht in seine Geheimnisse gewann. Er war wie ein Chamäleon.
    Arto Söderstedt geriet in Ekstase. In der Hoffnung, dem Möbelstück alle seine Geheimnisse entreißen zu können, zeichnete er eine dreidimensionale Skizze der gesamten Konstruktion.
    Die äußeren Konturen füllten sich rasch, dann, je schwieriger die Mechanismen zu lokalisieren waren, immer langsamer, bis nur noch einige weiße Flecken auf der Skizze übrig waren. Da ahnte er bereits das Morgengrauen.
    Es war schon ziemlich hell, als er innehielt und seine Skizze betrachtete.
    Wenn sie stimmte, enthielt die Skizze immer noch einen weißen Fleck. In der oberen linken Ecke, gleich unter dem arabeskenhaften Ornament, war ein Raum von etwa zehn Kubikzentimetern, der ihm Rätsel aufgab. Exaktes Klopfen ließ darauf schließen, dass es sich nicht um massives Holz handelte, sondern um einen Hohlraum. Er fand den Zugang nicht, war jedoch überzeugt, dass der Raum eine Überraschung barg. Er fingerte wild nach eventuellen Öffnungsmechanismen. Jede denkbare Kombination von einzudrückenden Intarsienteilen und Knöpfen und Astlöchern wurde ausprobiert. Ohne Erfolg.
    Es ging nicht. Das Rätsel blieb ein Rätsel. Vielleicht gab es keine Lösung. Vielleicht war gerade das die Lösung. Das Eitle des Unterfangens einzusehen und sich der großen Desillusion des Barocks zu ergeben.
    Aber wenn eines nicht Arto Söderstedts Melodie war, dann war es Desillusion.
    Er kämpfte weiter, während Kinder variierender Größe durch das immer heller werdende Wohnzimmer hin und her zu gleiten begannen wie Gespenster, die verschlafen hatten. Eine Ehefrau schoss von der Küche aus wütende Blicke in seine Richtung. Eine Toastscheibe blieb im Toaster stecken, sodass es gefährlich zu riechen begann. Eine Schlägerei um die Toilette brach aus, Blut floss und herzzerreißendes Weinen ertönte. Seine Nachkommenschaft jaulte wie Orgelpfeifen.
    Doch das Einzige, was Arto Söderstedt zu stören vermochte, war das Geräusch seines eigenen Weckers.
    Erst als jemand eine Decke über ihn warf wie über einen aufflammenden Brand, gab er auf. Er befreite sich von der Decke und schob die ausgezogenen Schubfächer des Schreibtischs in einer bestimmten Reihenfolge hinein, die er bis an sein Lebensende nicht vergessen sollte.
    Da knackte es oben links am Schreibtisch, und ein kleines Schubfach glitt an der Seite heraus. Vorsichtig blickte er hinein.
    Im Fach lag ein zusammengerolltes Blatt Papier. Es war vergilbt und offenbar spröde. Er wagte kaum, es anzurühren. Doch als er es anfasste, wirkte es nicht ganz so empfindlich, wie der erste Anblick es hatte vermuten lassen. Er entfernte behutsam das rote Seidenband, von dem es zusammengehalten wurde. Das Blatt öffnete sich ein wenig. Arto Söderstedt glättete es auf der Schreibtischplatte.
    Das gelbliche Blatt hatte ungefähr A4-Format und war mit unzähligen kleinen Tintenstrichen bedeckt. Hier und da schienen einzelne Striche ein Zeichen zu bilden, aber esschien wohl nur so, und es fand sich kein einziges deutbares Zeichen. Es war sehr sonderbar – als entdeckte man ein ganz neues Schriftsystem, eine ganz neue Sprache, die Gedanken zum Ausdruck brachte, wie Menschen sie noch nie gedacht hatten.
    Er unterschied ein paar Formen, die andeutungsweise irgendetwas glichen. Ein Tintenkringel sah aus wie eine leicht gedrehte Spaghetti, während ein anderer an einen Diamanten erinnerte.
    Obwohl Söderstedt sofort einsah, dass er vermutlich nie erfahren würde, worum es sich handelte, fühlte er sich auf besondere Weise auserwählt.
    Triumphierend hielt er das vergilbte Blatt Papier hoch und blickte in die Wohnung.
    Es war niemand mehr da.

26
    Â»Wo ist Arto?«, fragte Kerstin Holm und blickte über die Kampfleitzentrale.
    Â»Er kommt etwas verspätet«, sagte Viggo Norlander. »Er hat angerufen.«
    Â»Hmm«, sagte

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