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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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›Urrah!‹
    Stalingrad ist eingeschlossen. Dreißig Kilometer entlang der Krümmung des Flusses. Die alte tatarische Stadt Tsaritsyn, die im russischen Revolutionsmythos eine so große Rolle spielt. Dort verwandelte der heroische junge Josef Stalin die weißen Revolutionssieger in rote. Deswegen erhielt die Stadt seinen Namen.
    Und er wird an ihr festhalten. Er wird jede erdenkliche Anzahl von Menschenleben dafür opfern. Wenn die Stadt fällt, fällt der Mythos Stalin.
    Als würde die Wolfsschanze fallen, das Hauptquartier des Führers in Rastenburg in Ostpreußen.
    Zwei Mythen, zwei Lügen in einem Duell.
    Morgen gehen wir hinein. Wir setzen an zum Großangriff auf die Stadt, Mann gegen Mann, in Gassen und Fabrikruinen. Auge in Auge in verminten Häusern, umringt von gut postierten Scharfschützen mit perfekter Ortskenntnis.
    Es wird ein Rattenkrieg werden.
    Ich höre die scheintote Stadt knurren. Morgen wird sie brüllen. Aufheulen.
    â€ºUrrah!‹
    Mein Gott, an den ich nicht glaube. Was mache ich hier?

30
    Der Mann hörte auf zu lesen und sah auf seine Uhr.
    Es war so weit.
    Er klappte behutsam das Tagebuch zu, strich mit der Hand über die abgegriffenen Wachstuchdeckel und dachte über den Wert der Dinge nach.
    War es dies alles wert?
    Es war eine rhetorische Frage. Den Wert hatte er schon bestimmt. Er lag fest.
    Der Mann mit der Uhr nahm vorsichtig ein vergilbtes Blatt Papier und schob es als Lesezeichen ins Tagebuch. Dann legte er es weg und erhob sich aus seinem Lesesessel.
    Es war dunkel um ihn her.
    Dennoch sah er deutlich eine blonde Frau vor sich. Sie trug einen Tragegurt vor dem Bauch und blickte auf eine vollkommen blaue Meeresbucht hinaus, drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen, sie strahlte etwas aus, was man als Glück bezeichnen konnte. Dann sah er sie mit blaulila verfärbtem Gesicht, und ihre Augen waren zur Hälfte aus dem Kopf getreten.
    Dann sah er drei Brüder mit je einem Blatt Papier in der Hand. Und er sah zwei Väter in einem Keller, und um die Hausecke war die Hölle los. Und er sah einen vierten Bruder. Und er sah einen einsamen Sohn, der in einem Baum eine letzte Mitteilung an einen Freund hinterließ. Ein letztes Lebenszeichen von einem Toten.
    Um das Vergangene zu ändern.
    An einen Freund …
    Der Mann mit der Uhr warf noch einen Blick auf seine Uhr. Im gleichen Augenblick spürte er, dass gerade dies ein Zeichen von Schwäche war. Der Instinkt war noch da? Hattendie Jahre des Wohllebens keine schlechte Auswirkung auf seine Fähigkeit gehabt? War er noch fähig, die Führenden zu stellen? Die Jungen?
    Die Fragen bedeuteten nichts. Sie waren Luft.
    Es gab kein Zurück.
    Man lässt einen Waffenbruder auf dem Schlachtfeld nicht im Stich.
    Erst recht nicht zwei.
    Er blickte zum offenen Koffer auf dem Bett. Das schwache Nachtlicht war nicht mehr als ein Hintergrundleuchten. Aber der Waffenglanz, dieses unverkennbare Schimmern, trotzte dem Dunkel. Es war eine Farbe, die es auf der Farbskala nicht gab.
    Er schloss den Koffer, hob ihn hoch und blieb stehen. Sein Puls fiel ab, sein Atem wurde langsamer, seine Gehirnaktivität wurde auf ein Minimum reduziert, jede Bewegung hörte auf. Er vegetierte. Eine extreme Passivität, die eine extreme Aktivität ankündigte.
    Ein Sonnenblumensamen in der Wintererde.
    Er akzeptierte seine Schwäche und warf einen dritten Blick auf seine schöne alte Uhr. Dann brach er auf.
    Als er am Rand des Tantolunden in den Wagen stieg, gab es noch kein Anzeichen von Niederschlag, aber schon während der Fahrt über den Ringvägen hinauf zum Zinkensdamm fielen die ersten Körner. Auf der Västerbron legten sich die ersten Flocken auf die Windschutzscheibe. Ein engelgleiches Flattern spielte über dem nächtlich beleuchteten Riddarfjärden. Beim Lindhagensplan gelangte er auf den Drottningholmsvägen, und auf der Tranebergsbro hatten sich die leichten Flocken in nassen Schnee verwandelt, der nicht mehr herabschwebte, sondern fiel, wie Regen. Leuchtendes Flirren vor den emsig schlagenden Scheibenwischern. Matschige Schwellen zwischen den Fahrbahnen, zwischen den Rädern.
    Er hatte sowieso nicht vor, anders als vorschriftsmäßig zu fahren. Er hielt sich an seine Spur. Niemand konnte ahnen,dass er etwas anderes war als ein ganz gewöhnlicher nächtlicher Autofahrer auf dem Heimweg in die westlichen Vororte Stockholms, der noch spät

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