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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Zwischenspiel auf dem Weg zu den Ölquellen des Kaukasus. Wir sollten nur ein paar Rüstungsbetriebe ausschalten und das Wolgaufer sichern.
    Dann machten wir die Stadt zu etwas anderem. Zu einem Totenacker.
    Sie sollte verschwunden sein. Die ganze Stadt sollte ausgelöscht sein. Das ist sie auch. Sie ist tot. Und doch lebt sie.
    Wir waren am Ende unserer langen Wanderung vom Don herüber, als sie kamen. Es war ein gewaltiger Anblick. Ein Schatten wuchs über der Steppe auf, dann kam das Geräusch, und schließlich erkannten wir sie weit weg am Horizont. Sie bedeckten den Himmel, sie ersetzten ihn, und ihr Dröhnen war das Dröhnen aus einer anderen Welt. Der Himmel war von Flugzeugen bedeckt, und alle waren mit Bomben gefüllt, um Stalingrad zu vernichten.
    Wie konnten wir noch verlieren?, dachten wir und füllten unsere Lungen mit dem betäubenden Duft verbrannter fossiler Brennstoffe.
    Die Luftwaffe. Die Männer des Generaloberst von Richthofen. Die vierte Luftflotte. Wolfram von Richthofen, der Cousin des ›roten Barons‹, das Gehirn hinter Guernica. Heinkels und Stukas in unglaublichen Mengen. Massive Bombenteppiche. Die vollendete Menschenverachtung.
    Aber dies hier war viel größer als Guernica.
    Ich erinnere mich so deutlich daran. Es war der Sonntag vor drei Wochen. Der Feuerball stieg einen halben Kilometer zum Himmel auf, als die enormen Ölzisternen am Strand der Wolga getroffen wurden und brennendes Öl den Fluss bedeckte. Tag um Tag um Tag stiegen die schwarzen Rauchsäulen auf wie aus der Hölle. Es war dieser Rauch, zusammen mit den Abgasen der Flugzeuge, der mich veranlasste, wieder ernsthaft über fossile Brennstoffe nachzudenken. Ihre diabolische Kraft. Meine Forschung trat mir wieder klar ins Bewusstsein.
    An einem einzigen Tag, an ebendiesem Sonntag, dem 23. August, warf die Vierte Luftflotte mehr als tausend Tonnen Bomben ab. Ganze drei Maschinen gingen verloren. Wie viele der mehr als eine halbe Million Einwohner Stalingrads starben, weiß ich nicht. Aber es sollten keine übrig geblieben sein. Wir glaubten, dass keine übrig geblieben waren.
    Vor vier Monaten nahmen wir Charkow ein. Jetzt glauben alle, dass wir bald Stalingrad einnehmen. Aber das sehe ich nicht. Nicht jetzt, da wir an den Stadträndern stehen und die Ruinen betrachten. Es sind keine toten Ruinen, es sind rachsüchtige Ruinen. Es ist der Vogel Phönix, der sich mit mythischer Kraft aus seiner Asche erhebt.
    Russische Soldaten strömen herein. Diese Stadt soll um jeden Preis gehalten werden. Das ist es, was ich sehe. Aber ich sehe nichts. Ich beobachte die Ruinen vom Hügel gegenüber. Durch den Feldstecher sehe ich die schicksalsträchtige Wüste der rauchenden Stadt, das gefallene Skelett einer Stadt. Ich sehe ihre Bosheit. Dann setze ich mich hin und schreibe. Ich muss.
    Viele würden sagen, dass es ein guter Sommer war. Ich ließ mich mitreißen, ein bisschen. Ich fand auch, dass es ein guter Sommer war. Bis ich gestern Morgen beim Aufwachen Eis im Wassereimer sah. September und Eis. Und die wartende Stadt, wie ein schwarzes Herz in ihren Ruinen pochend.
    Keiner kann sagen, dass es leicht ging, aber die 16. Panzerdivision, unsere Speerspitze, verließ eines Morgens den Don und war am Abend an der Wolga. Da schien alles möglich. Ich kann Papa Hube in seinem Panzer vor mir sehen, General Hans Hube, den künstlichen schwarzen Arm erhoben.
    So war es für uns nicht. Der ganze Weg über die Donsteppe war grotesk, obwohl wir ständig siegten. Siegten, vergewaltigten, raubten, mordeten. Ekelhaft zu sehen, wenn der Mensch zur Bestie wird.
    Die ständig geänderten Pläne des Führers trieben die Generäle zum Wahnsinn. Als er plötzlich die Heeresgruppe Süd in zwei Teile teilte, die Heeresgruppe A zum Kaukasus im Süden, die Heeresgruppe B zur Wolga im Norden, und plötzlich die Operation Blau aus einer geschlossenen Operation in zwei Stadien in zwei separate Operationen verwandelte. Wie dadurch der Vormarsch auf Stalingrad verzögert wurde!

    Wir sind zu spät hierhergekommen.
    Die Bestie knurrt im nahenden Winter.
    â€ºUrrah!‹, klingt es ständig in unseren Ohren und jagt uns Schauer das Rückgrat hinunter. Der widerwärtige Schlachtruf der sowjetischen Infanteristen. Wenn er nur eine kleine Spur zu nah ertönte, war man tot. Nach einer Schrecksekunde.
    Es kommt wie ein Gurgeln aus der Stadt.

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