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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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war es ein Raubtierangriff«, sagte Johannsen matt und reichte ihr die Aufnahmen zurück.
    »Und inoffiziell?«
    »Es gibt Dinge in Afrika, die bleiben lieber ungesagt und nicht aktenkundig, wie ich gelernt habe. Ich fand es schockierend genug, dass zwei Frauen getötet worden sind, die in dieses Land kamen, um zu helfen.«
    »Wie beurteilen Sie die Aufnahmen, die ich Ihnen gerade gezeigt habe?«
    »Die Verletzungen sind sehr ähnlich.«
    »Mhm«, machte Alex. »Ich glaube nicht, dass in Lemfeld ein Raubtier Menschen zerfleischt. Aber es hat den Anschein, dass es so aussehen soll. Genau wie bei den Morden an den beiden Krankenschwestern. Ich wüsste gerne, warum.«
    »Mademoiselle«, brach M’Obele sein Schweigen, zog aus der Brusttasche seines Hawaiihemds eine Packung französischer Zigaretten und steckte sich eine an. Seine Augen waren im Halbdunkel der Hütte nicht zu erkennen. Er hielt die Aufnahme mit der archaisch anmutenden Zeichnung aus der Schliemannschen Fabrik hoch. »Haben Sie eine Ahnung, was dieses Zeichen bedeutet?«
    »Nicht genau«, sagte Alex und setzte sich erwartungsvoll aufrechter.
    »Ich gehe davon aus, dass Sie noch nicht von den Leopardenmenschen Westafrikas gehört haben?«
    »Leopardenmenschen?«
    M’Obele legte den Kopf in den Nacken und entließ einen Schwall Rauch in die Luft. Sonnenstrahlen, die durch Ritzen im Dach ins Innere der Hütte fielen, tanzten in dem Qualm. »Leopardenmenschen«, wiederholte er. »Die Leopardengesellschaft.«
    »Nein. Davon habe ich noch nie in meinem Leben etwas gehört.«
    Der Polizist schnippte etwas Asche zur Seite und gab Alex das Foto zurück. »Die Gesellschaft gibt es in verschiedenen Regionen Afrikas. Als ihre Zentren im Westen gelten Sierra Leone, Côte d’Ivoire und Liberia. Es ist ein Geheimbund. Seine Angehörigen sind der Meinung, sich in Leoparden verwandeln zu können. Sie hüllen sich in Felle und verwenden eiserne oder hölzerne Krallen, um Menschen zu töten. Blut, Fett und Körperteile werden zu magischen Zwecken verwendet. Menschenfleisch ist der Fetisch dieses Bundes.«
    Mit den Worten schien ein eisiger Wind durch die Holzhütte zu wehen. Natürlich hatte Alex schon von rituellen Opfern und religiösem Kannibalismus gehört, wodurch die Stärke der Besiegten oder der Geist der Vorfahren in den Angehörigen von Stämmen weiterleben sollten. Aber was der Polizist hier auftischte, war eine andere Hausnummer.
    M’Obele sprach weiter. »Afrika hat trotz aller Modernität viele dunkle Seiten, und die Leopardengesellschaft ist nicht die einzige, deren Glaube auf Tierverwandlungen basiert. Es gab in der Vergangenheit viele rituelle Morde in unserem und den angrenzenden Ländern, die auf das Konto der Leopardenmenschen gehen – dabei muss man einschränken, dass es gemäßigte Gruppen gibt und sehr radikale. Genau wie im Christentum. Wir reden hier über einen extremen Zweig der Gemeinschaft. Ihre grausame Gottheit ist der Bohfimah, ein Fetisch, und er fordert Opfer. Die Mitglieder des Kults glauben, der Bohfimah verleihe ihnen Macht, Erfolg und übernatürliche Kräfte sowie die Fähigkeit, zu Leoparden zu werden, wann immer sie wollen. Initiaten müssen sich dem Kult beweisen und Menschen für den Bohfimah töten, um ihm deren Fleisch zu bringen. Dem Gott wird bei Vollmond geopfert, damit er dafür Sorge trägt, dass die Kräfte der Natur alle Angehörigen des Kults in starke Tiere verwandeln. Der Mond spielt also eine rituelle Rolle – aber auch eine pragmatische: In seinem Licht lässt sich am besten jagen.«
    Ein Fetisch? Menschen, die glaubten, sich in wilde Tiere verwandeln zu können? Das war Irrsinn, und trotzdem schilderte ihr der Polizist ungerührt, dass das Zeichen auf dem Foto ein Symbol eben dieser Leopardengesellschaft war.
    »Kurz nach dem Ersten Weltkrieg«, erklärte er weiter, »erlebte der Kult einen ersten Höhepunkt. Die Kolonialregierungen gingen scharf dagegen vor und ließen Verhaftete auf der Stelle hängen oder erschießen. Also tauchte die Gesellschaft in den Untergrund ab. Mitte des letzten Jahrhunderts breitete der Kult sich erneut aus. Er zeigte immer weniger Furcht vor den Behörden und unterwanderte diese schließlich, ja, drang sogar bis in die höchsten Ämter vor. Am Ende gelang es der Polizei dennoch, viele Mitglieder zu verhaften. Eine Reihe von ihnen wurde hingerichtet. Man ließ einige Stammesoberhäupter dabei zusehen, um zu beweisen, dass Leopardenmenschen nicht unsterblich sind. Wenig später

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