Totenmond
setzten sie trotzdem das Töten fort.«
»Diese Gesellschaft«, fragte Alex mit trockener Kehle, »ist weiter aktiv?«
»Sie hat nie aufgehört zu existieren. Die beiden toten Krankenschwestern sind bei weitem nicht die einzigen Opfer im Busch, Mademoiselle. Es sind nur die einzigen, von denen Sie Kenntnis erhalten haben, weil es sich um Deutsche handelte. In den letzten Jahrzehnten gab es immer wieder Wellen, und nach unseren Erkenntnissen konzentrieren sich die Leopardenmenschen entweder auf junge Frauen oder Kinder als am leichtesten zu überwältigende Opfer – so wie ein Leopard sich die schwächsten Tiere einer Herde aussucht.«
»Wie viele derartige Todesfälle haben Sie in den letzten Jahren verzeichnet? Und gibt es weitere Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern?«
»In den vergangenen fünf, sechs Jahren haben wir verstärkte Aktivitäten festgestellt. Gelegentlich fanden wir sogar in den Städten Opfer – in Kanalisationen, verlassenen Häusern oder Hinterhöfen. Es handelte sich hier häufig um junge, weibliche Prostituierte. In der Region Dimbokro sind wir auf weitere Tote gestoßen, ebenfalls meist weiblich, einige stammten aus Waisenhäusern. In der Summe reden wir derzeit über rund dreißig Tote. Seit einiger Zeit haben die Aktivitäten wieder nachgelassen – sicher, weil wir die Polizeipräsenz erhöht und Verhaftungen vorgenommen haben. Bei den Vernehmungen haben wir außerdem über etwas Kenntnis erlangt, das uns bislang neu war, von dem Dr. Johannsen die Bevölkerung aber schon häufiger hat reden hören.«
»Die Menschen«, sagte Johannsen leise, »fürchten sich vor etwas, was sie noch nie in ihrem Leben gesehen haben: einem weißen Leoparden.«
65.
E in weißer Leopard?«
Alex’ Stimme war zu einem Krächzen geworden.
»Es kam nicht selten vor«, schilderte M’Obele, »dass Kolonialbeamte aus Europa, Ingenieure, strenggläubige Christen oder sogar Missionare ihre zivilisatorische Erziehung vollkommen über Bord schmissen und sich archaischen Kulten und fremdartigen Göttern unterwarfen.«
»Warum?«
»Zunächst Interesse. Dann Faszination. Und schließlich der Wunsch nach Macht. Ich habe vorhin nicht ohne Grund geschildert, dass man mit diesen Geheimgesellschaften sehr vorsichtig umgehen muss, weil ihre Kontakte bis in die höchsten Regierungskreise oder in die Wirtschaft reichen.« M’Obele drückte seine Zigarette aus. »Die vernommenen Angehörigen der Leopardengesellschaft haben uns von dem weißen Leoparden berichtet. Sie müssen verstehen, dass der Kult eine Gruppe ist, die ihren Riten gemeinsam nachgeht. Dieser weiße Leopard jedoch soll ein Einzelgänger sein.«
»Können Sie mir Daten über die Fundorte der Opfer mitteilen? Ich würde gerne eine Statistik darüber anlegen.«
»Warum?«
»Es könnte sich daraus eine Spur ableiten lassen. Ich gehe recht in der Annahme, dass Leoparden gebietstreue Jäger sind, nicht wahr?«
»Das ist der Fall.«
»Aus der Fülle der Morde ließen sich diejenigen von der Landkarte streichen, die von den Anhängern des Kults zugegeben worden sind. Was übrig bleibt, könnte auf das Konto des Einzelgängers gehen, und wir wissen, dass Serientäter eine sogenannte Komfortzone haben: Sie schlagen innerhalb eines gewissen Radius um ihren Lebensmittelpunkt zu – oder entlang vertrauter Routen, etwa dem Weg zur Arbeit. Eventuell lässt sich so die Spur des weißen Leoparden isolieren.«
M’Obele grinste und zeigte seine makellosen Zähne. »Sie wollen den Leoparden so jagen, wie er selbst jagt. Das gefällt mir.«
Alex lächelte verlegen und schob die Fotos zurück in die Mappe, um sie in ihrer Tasche verschwinden zu lassen.
»Was interessiert Sie an dem weißen Leoparden so besonders?«, fragte Johannsen.
»Es könnte sein«, sagte Alex, »dass der Rückgang in Monsieur M’Obeles Kriminalstatistik nicht allein mit dem erhöhten Fahndungsdruck zu tun hat. Vielleicht liegt es daran, dass der weiße Leopard einfach weitergezogen ist. Nach Deutschland. Nach Lemfeld.«
Der weiße Leopard, dachte Alex, hatte sein neues Opfer sicher längst ausgemacht – sehr bald war Vollmond. Wenn er sich selbst treu blieb, würde er Alex wieder einen Hinweis auf seine Jagdgründe geben. Dann blieben nur zwölf bis vierzehn Stunden Zeit, um sein nächstes Opfer zu retten. Und Alex hoffte inständig, dass sie rechtzeitig nach Hause kommen würde.
66.
H einz Glubrecht war kein misstrauischer Mensch. Aber als er mit seinem knatschgelben Fahrrad um die
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