Totenmond
Frauen«, hakte Alex nach, »sind laut meinen Unterlagen in einem Abstand von drei Monaten ums Leben gekommen. Die jeweiligen Todeszeitpunkte – wie exakt sind Ihre Angaben darüber in den Dokumenten?«
»An den jeweiligen Tagen war Vollmond«, sagte Johannsen ohne nachzudenken, und für einen Moment stockte Alex der Atem. Bevor sie die Bemerkung des Arztes kommentieren konnte, ergänzte er: »Die Fälle liegen einige Jahre zurück, Frau von Stietencron. Ich kann mir nur einen Grund vorstellen, warum sich auf einmal die deutschen Behörden wieder dafür interessieren sollten. Ich vermute, Sie sind bei Recherchen auf die Fälle gestoßen, und solche Recherchen können nur einen Grund haben: Dass in jüngster Zeit etwas Vergleichbares geschehen ist.«
Alex fragte: »Wie kommen Sie darauf, dass der Vollmond eine Rolle spielte?«
Wieder wechselten M’Obele und Johannsen einen Blick.
»Dazu kommen wir gleich«, sagte der Arzt. »Lassen Sie mich zunächst auf Ihre Eingangsfrage eingehen. Nun, beide Fälle haben sich nicht wesentlich voneinander unterschieden. Die Opfer wurden im Busch gefunden und waren schrecklich zugerichtet. Die Nacken der Frauen zerrissen, die Köpfe nahezu abgetrennt. Die Eingeweide hingen aus dem aufgebrochenen Torso heraus. Die Brustwarzen waren verschwunden, die Hüftknochen zum Teil wie zerschmettert. Ein Teil der Hüfte fehlte jeweils gänzlich. Es sah aus wie bis auf den Knochen weggefressen. Weiter lagen Teile der Unterschenkelknochen neben den Körpern. Alles wies zunächst darauf hin, dass die Frauen von einer Großkatze angefallen und getötet worden waren. Die Jäger, die die Leichen im Busch gefunden hatten, waren ebenfalls dieser Meinung – die Handschrift war eindeutig. Aber etwas Wesentliches stimmte nicht.«
»Eindeutig – wofür?«
Alex’ Schwindelgefühl wurde stärker, und das lag nicht an der Übermüdung und Erschöpfung. Es war, als habe Johannsen einen der Lemfelder Tatorte im Detail beschrieben, obwohl viele tausend Kilometer und einige Jahre dazwischenlagen.
»Eindeutig für den Angriff eines Leoparden«, sagte Johannsen. »Die Körper sahen aus, als seien sie von Reißzähnen und Klauen zerfetzt worden. Meine späteren Untersuchungen haben aber einige Ungereimtheiten aufgezeigt – eine Reihe von Details passte nicht ins Bild. Zum einen lagen die Opfer in wahren Seen voller Blut. Das war bemerkenswert, denn normalerweise würde eine Großkatze das Blut auflecken. Weiter habe ich festgestellt, dass die Haut an den noch intakten Stellen des Oberkörpers ungewöhnlich gleichförmige tiefe Einschnitte aufwies – zu regelmäßig, um von den Krallen eines Tieres zu stammen. Die Lebern und Nieren waren verschwunden, nicht ungewöhnlich bei einem Raubtierangriff. Allerdings waren die Organe mit sauberen Schnitten herausgetrennt worden, und das kann ein Tier unmöglich tun. Und natürlich die Hüfte …«
»Was«, fragte Alex heiser, deren Unbehagen mit jeder Sekunde weiter wuchs, »war damit?«
»Der Bruch war typisch für eine Überdehnung«, erklärte Johannsen. »Die Beine der Opfer sind so massiv auseinandergebogen worden, dass es zur Fraktur kam. Es haben sich jedoch keine Bisswunden an den Schenkeln gefunden, die darauf hätten schließen lassen, dass ein Leopard sein Opfer mit sich geschleift hätte oder mit einem Ruck den Oberschenkelknochen aus der Hüftpfanne herauslösen wollte. Außerdem die fehlenden Brustwarzen: Was sollte ein Raubtier damit tun? Mit anderen Worten …«
»Mit anderen Worten?«
»Mit anderen Worten war ich der Auffassung, dass aller Wahrscheinlichkeit nach etwas die Frauen getötet hat, das kein Tier war, aber den Eindruck erwecken wollte, es sei eines gewesen beziehungsweise sich am Tatort so verhalten hat.«
Da waren sie. Alle Aspekte der Morde aus Lemfeld waren zuvor schon einmal in Afrika aufgetaucht. Die Körper, die Brustwarzen, der Eindruck, ein wildes Tier sei über die Opfer hergefallen.
Wortlos griff Alex nach der Mappe mit Ausdrucken der Lemfelder Tatorte und aus der Gerichtsmedizin. Sie ließ die Aufnahmen herumgehen und beobachtete die Reaktion des Polizisten und des Arztes. Mit einem Kloß im Hals gab sie eine Zusammenfassung der rechtsmedizinischen Untersuchung.
Als sie fertig war, fragte sie: »Wenn Sie der Meinung waren, dass ein Mensch die Frauen getötet hat, ein Wahnsinniger, wieso haben Sie in den Totenscheinen dann Raubtierangriff eingetragen?«
»Ich habe nie behauptet, dass es ein Mensch war. Offiziell
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