Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
Vom Netzwerk:
Ecke bog, war ihm klar, dass hier etwas nicht stimmte. Er sah in einiger Entfernung einen Polizeiwagen stehen. Davor parkten am Seitenstreifen zwei dunkle Kombis. Das war ungewöhnlich, denn um diese Uhrzeit und an diesem Wochentag hielten hier niemals Autos, schon gar keine Kombis und erst recht keine Streifenwagen. Ebenso geschah es in dieser Gegend seines Zustellbezirks nie, dass rauchende Männer auf dem Bürgersteig standen und ihn anstarrten, als sei der Korb an seinem Fahrrad nicht zum Bersten mit Briefen gefüllt, sondern mit Heroinpäckchen.
    Heinz verlangsamte das Tempo unter den Blicken der Männer. Dann geriet er auf eine Eisscholle und schlingerte mit dem Lenker. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich in einem schmutzigen Schneehaufen mit dem Bein abstützen und einen Sturz vermeiden. Aber der Schnee gab nach, und Heinz fiel. Instinktiv drehte er sich um die eigene Achse und streckte dem Fahrrad die in einer gelb-roten Thermojacke steckenden Arme entgegen. Wie ein Torwart den Ball umfing er den an der Lenkstange befestigten Korb und vermied in letzter Sekunde, dass die komplette Post in einer riesigen Schneematschpfütze landete.
    Heinz lag wie ein Käfer auf dem Rücken, keuchte und blickte sich hektisch zu den Männern um, die keinerlei Anstalten machten, ihm Haltungsnoten zu geben oder zu Hilfe zu kommen. Sie standen einfach weiter da. Während Heinz sich umständlich aufrappelte, überlegte er, was hier im Gange war.
    Wollten diese Leute eine Bank überfallen? Aber in dieser Straße gab es keine. Nicht mal einen EC-Automaten. Wollten sie den Kiosk ausrauben? Dann wären sie ganz schön blöd, unmaskiert herumzustehen – zumal sich in Reichweite ein Streifenwagen befand. Oder war er etwa mitten in eine …
    Heinz sog scharf die kalte Luft ein, senkte den Blick und klappte den Radständer aus. Natürlich. Die überwachten jemanden.
    Heinz zog wie automatisch die heutige Post für das große Mehrfamilienhaus aus dem Korb. Seine Hand zitterte. Denn schlagartig wurde ihm klar, dass er gerade, verdammt noch mal, mitten in die Schusslinie geraten war. Heinz schluckte. Seine Augen weiteten sich. Der Gedanke daran war fürchterlich, schrecklich, entsetzlich, und er sah sich bereits den ganzen Nachmittag in einer abgedunkelten Zelle sitzen, mit nichts als einer grellen Lampe im Gesicht und der schneidenden Stimme im Nacken: »Rede, Glubrecht! Wie viel weißt du?«
    Ohne die Männer aus den Augen zu lassen, bewegte sich Heinz zu dem weißlackierten Briefkastenblock und erschrak erneut, als einer der Männer ein Funkgerät aus der Innentasche zog, etwas hineinsprach und hinauf zu einem Fenster im Dachgeschoss sah. Heinz erstarrte. Hinter der Gardine registrierte er eine rasche Bewegung und – was noch viel erschütternder war – eine Videoüberwachungsanlage neben der Überdachung des Haupteingangs, die neulich noch nicht da gewesen war.
    Nein, solche Sachen machte nicht die Polizei. Solche Sachen machten Geheimdienste, um Terroristen aufzuspüren. Al-Qaida-Zellen, die sich bekanntlich in so unauffälligen Häusern wie diesem versteckten, und …
    Aus dem Inneren des Hauses war lautes Türenknallen zu hören. Dann schnelle Schritte auf der Treppe. Heinz wirbelte mit dem Kopf herum. Mit jähem Entsetzen erkannte er, dass sich die Männer in Bewegung gesetzt hatten und geradewegs auf ihn zugelaufen kamen. Wenige Augenblicke später wurde die Haustür aufgerissen. Eine dunkelhaarige Frau erschien. Sie trug einen Jogginganzug, hatte nasse Haare und sah übernächtigt aus. Ihre Wangen glühten wie von der Sonne verbrannt. Sie hatte eine Narbe im Gesicht. Wahrscheinlich kam sie gerade aus einem Terrorcamp in der Wüste.
    »Guten Morgen«, sagte sie. Ihre Brust hob und senkte sich schnell.
    »Moin«, hörte Heinz hinter sich.
    Er drehte sich um. Die Männer waren bei ihm angekommen. Einer griff in seine Innentasche. Heinz war völlig klar, wozu. Panisch ließ er die Post fallen und streckte die Arme so weit in die Luft, wie er nur konnte. Der Mann runzelte die Stirn.
    »Bitte«, sagte Heinz mit brechender Stimme. »Ich habe Kinder.« Seine Unterlippe bebte.
    »Junge oder Mädchen?«, fragte der Mann. Er trug einen arabisch geschnittenen Bart und war mit Muskeln bepackt. Ein Killertyp, eine Kampfmaschine, kein Zweifel.
    »Beides«, wimmerte Heinz.
    »Ich hab eine Tochter«, sagte der Mann, nahm ein Paar Latexhandschuhe aus der Innentasche und zog sie an.
    Er beugte sich nach vorne, um die am Boden liegenden

Weitere Kostenlose Bücher