Totenmond
Unterlagen hervor, die Roger M’Obele ihr zugefaxt hatte, und schilderte, was es damit auf sich hatte: »Nach den Daten M’Obeles kommen neun Morde innerhalb des Zeitraums von sechs Jahren in Frage, darunter die Morde an den beiden Krankenschwestern. Die Taten haben sich zum überwiegenden Teil in ländlichen Gebieten ereignet, in drei Fällen jedoch in der Hauptstadt Abidjan, wo jugendliche Prostituierte der Bestie zum Opfer gefallen waren.«
»Warum die zeitlichen Lücken?«, fragte Möbius.
»Ich hatte noch keine Zeit, das zu analysieren«, sagte Alex. »Möglicherweise hat sich der Leopard dazwischen in anderen Ländern aufgehalten und eventuell dort weiter gemordet. Es ist aber ebenso möglich, dass sein Leben in diesen Zeiten in geordneten Bahnen verlaufen ist, seine Gemütslage stabil und sein Stressfaktor gering war. Es hätte dann keine Auslöser gegeben, um sich abzureagieren. Die Erinnerung an vergangene Taten hätte ihm ausgereicht.«
»Mit anderen Worten«, schaltete sich Veronika ein, »würden wir demnach einen Täter suchen, der sich zu gewissen Zeiten an gewissen Orten in Afrika aufgehalten hat und jetzt wieder in Lemfeld lebt.«
Alex nickte.
»Ich kaufe dir die Geschichte nicht ab«, sagte Veronika. »Es klingt mir zu abenteuerlich, eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten in einem Fall, in dem wir bereits sehr viele handfeste Indizien in den Händen halten. Ein Tatverdächtiger, der alle Opfer kannte, sie traf, mit ihnen Sex hatte, dessen DNA-Spuren nachgewiesen sind. Demgegenüber steht ein vermeintliches Phantom aus dem afrikanischen Dschungel, über das wir nichts wissen: Wenn ich dem Staatsanwalt diese beiden Varianten präsentiere, welche wird er wohl bevorzugen?«
Möbius streckte sich im Sitz. »Er wird wissen wollen, wie ein Inhaftierter jemanden getötet haben soll.«
»Es gibt einen Komplizen oder einen Trittbrettfahrer«, fuhr Veronika dazwischen.
»Aber ich habe von den eindeutigen Verletzungen berichtet«, sagte Alex. »Von den Leopardenfellspuren, von den Zeichen.«
»An der Goldspechtmühle gab es aber keine Zeichen, Alex. Der ganze Modus ist anders.«
Möbius hob beschwichtigend die Hände. »Können wir ausschließen, dass die Mörder ein Team bilden?«
»Es wäre möglich, dass sie ein Team bilden«, sagte Veronika.
»Ich glaube nicht daran«, erklärte Alex. »Aber ausschließen kann ich es nicht.«
Möbius blickte einen Moment aus dem Fenster. Das dunkle Grau des Morgens war der Farbe von Nebel gewichen. Im Radio war für heute ein schwerer Schneesturm über Deutschland angekündigt worden, der gegen Abend auf NRW treffen würde. Orkanböen, bis zu dreißig Zentimeter Neuschnee. Der Himmel schien sich bereits darauf vorzubereiten.
»Okay«, sagte Möbius noch einmal und drehte seinen Stuhl wieder in Richtung der beiden Frauen. »Trittbrettfahrer, Team, Afrika. Ihr bleibt so lange an drei Varianten dran, bis die Spuren sich kreuzen, denn ich habe das Gefühl, das werden sie. Ihr werft zusammen, was ihr bislang wisst.« Möbius hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. Alex und Veronika sahen sich an.
»Natürlich«, sagte Veronika.
76.
D ie Wahrheit hat viele Facetten, und es gibt zahlreiche Theorien darüber, was Wahrheit ist, denn Wahrheit ist immer auch eine Frage der Perspektive. Ein Angeklagter mochte seine Tat gestehen, jede Menge Beweise sie belegen und die Staatsanwaltschaft die Schuld als erwiesen ansehen. Trotzdem konnte ein Gericht zu einer anderen Auffassung gelangen und den Beschuldigten freilassen. Was die Lemfelder Morde anging, gab es unterschiedliche Entwürfe der Wahrheit – und insofern war die Wahrheit kurioserweise vor allem eine Frage des Glaubens und der Wahrscheinlichkeit, dachte Alex. Es war, als müssten sie sich durch einen Nebel wühlen und wüssten nicht, wie herum sie den Stadtplan zu halten hätten. Aber am Ende, und das war allen klar, blieb nur ein Weg übrig. Eine Wahrheit: Vier Menschen waren in Lemfeld ermordet worden, und jemand war dafür verantwortlich.
Die Stimmung im Lage- und Besprechungsraum war konzentriert. Nachdenklich und schwer. Schneider fläzte sich auf seinem Stuhl und pulte sich mit dem kleinen Finger im Ohr. Reineking stand mit verschränkten Armen vor der Heizung und wärmte sich den Hintern. Alex betrachtete mit leerem Blick eine mit Bildern, Fotokopien, Plänen und Post-its gepflasterte Flipchart und bastelte aus Büroklammern eine Kette. Veronika lehnte mit der Hüfte an einem Tisch und betrachtete ihre
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