Totenmond
ein und aus. Dann gab er seinem Drehstuhl etwas Schwung, rollte an den Schreibtisch heran, faltete die Hände auf dem Nussbaumholz und beugte sich etwas vor. Schließlich brummte sein tiefer Bass durch den Raum. »Was ich sehe, ist ein inhaftierter Tatverdächtiger und ein Mord, den er nicht begangen haben kann. Was ich sehe, ist ein Staatsanwalt, der deswegen die U-Haft voraussichtlich aufheben muss, womit wir wieder am Anfang stehen und in der Luft zerrissen werden.«
Veronika öffnete den Mund, als wollte sie widersprechen. Möbius machte eine abwehrende Geste und blickte die beiden Frauen ernst an.
»Schluss mit dem Kompetenzgerangel. Ihr werdet euch zusammenreißen und zusammenraufen. Das ist eine Dienstanweisung. Keine Alleingänge mehr. Von niemandem.«
Veronika rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Alex knetete ihre Knöchel, die weiß hervorstachen.
Möbius lehnte sich noch etwas weiter nach vorne und senkte die Stimme. »Frau Martens. Sie leiten eine Mordkommission und das Dezernat. Wenn ich solche Sachen gleich zu Ihrem Einstieg höre, dann sage ich Ihnen frei heraus: Das ist scheiße.«
Veronika zuckte zusammen. Ihr Blick wurde unstet. Aber sie sagte weiterhin kein Wort.
»Frau von Stietencron. Diese Afrika-Nummer und derlei Dinge auf die eigene Kappe durchzuziehen, das ist ebenfalls scheiße.«
Alex schluckte und betrachtete ihre Schuhspitzen.
»Ich habe hier eine hochqualifizierte, hochmotivierte neue Dezernatsleiterin auf der einen Seite und eine ebenso qualifizierte und ehrgeizige Mitarbeiterin am Anfang ihrer Karriere. Ihr wollt beide euer Stück vom Kuchen. Das kann ich verstehen. Aber ich werde keinen Wettbewerb zulassen. Erst recht nicht in einem Fall von diesen Dimensionen. Wenn ihr untereinander etwas zu klären habt, geht in die Turnhalle und zieht euch Boxhandschuhe an. Das war es von mir dazu.«
Veronika schnappte nach Luft. Alex nagte an der Unterlippe.
Möbius lehnte sich im Sessel zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Und jetzt zu wichtigeren Dingen. Wo stehen wir, wohin gehen wir?«
Veronika räusperte sich und warf Alex einen Seitenblick zu, der in toskanischen Steinbrüchen Marmor gespalten hätte. Sie sagte: »Wir haben das vierte Opfer identifiziert. Der Name ist Jennifer Gärtner, dreiundzwanzig Jahre alt, Lehramtsanwärterin aus Lemfeld. Sie ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen und passt somit ins bisherige Muster. Sie hatte ebenfalls Kontakte zu dem Tatverdächtigen Elmar Hankemeier über GetLove. Wir haben ihre Profildaten sowie Mails über eine Verabredung im Jacks auf Hankemeiers Account gefunden. Außerdem liegen seit heute Morgen die ausgelesenen Handy-Daten von Hankemeiers Telefonen vor. Sie bestätigen, dass er Kontakte zu allen Opfern hatte. An dem Abend der Verabredung im Jacks ist Jennifer Gärtner verschwunden, während Hankemeier weiterhin in U-Haft saß. Die Kollegen werden heute die Angestellten im Jacks befragen – in der Hoffnung, Hinweise auf Jennifer und eine mögliche andere Person zu finden, mit der sie sich dort getroffen hat.« Veronika machte eine Pause und blickte zu Boden. Dann sah sie zu Alex. »Es hatte einen Grund, weswegen die Handy-Analyse länger gedauert hat. Wir haben auf einem der Handys von Hankemeier sowie auf seinem privaten PC Programme gefunden, die dazu geeignet sind, die Kommunikation zu überwachen beziehungsweise fernzusteuern. Du hattest also recht mit deiner Annahme, Alex.«
»Moment«, schaltete sich Möbius ein. »Was bedeutet das im Klartext?«
»Es bedeutet«, übernahm Alex das Wort, »dass möglicherweise jemand die Frauen tötet, die Elmar Hankemeier sich als Partnerinnen aussucht, indem er dessen Online-Aktivitäten verfolgt oder manipuliert. Hankemeier ist der Köder für die Bestie.«
»Und wer ist die Bestie?«, fragte Möbius.
»Der weiße Leopard«, sagte Alex.
Schweigen breitete sich in dem Büro des Polizeichefs aus. Möbius massierte sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. Seine Brust blähte sich wie ein Luftballon auf. »Wer oder was«, fragte er im Ausatmen, »ist der weiße Leopard?«
Alex erzählte von ihren Recherchen in Afrika. Sie schilderte, was es mit der Leopardengesellschaft auf sich hatte, und schloss mit der These, dass der wahre Täter in Afrika die fremdartigen Rituale der Geheimgesellschaft kennengelernt und für sich adaptiert hatte und schließlich nach Lemfeld zurückgekehrt war, um hier weiter zu töten. Aus einer Aktenkladde nahm Alex die
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