Totenmond
drangen aus dem Inneren. Dann öffnete sich die Tür. Außer einer feuchtwarmen, nach Müll stinkenden Wolke schlug Alex der scharf nach Alkohol riechende Atem der gebeugten kleinen Frau in weißen Fahnen entgegen.
Sie mochte sechzig oder siebzig Jahre alt sein, schwer zu schätzen. Ihre Gesichtsfarbe glich der von Wachs. Geplatzte Äderchen auf den Wangen und in den Augäpfeln wiesen darauf hin, dass Alkohol schon seit geraumer Zeit zu ihren Grundnahrungsmitteln zählte. Sie trug eine schmutzigbraune, fleckige Strickjacke. Die grauen Haare hingen wie Spinnenweben von ihrem Kopf herab.
»Ingelore Frentzen?«, fragte Schneider.
Die Frau nickte mit offenem Mund.
Schneider zeigte seinen Dienstausweis vor. »Rolf Schneider, Kriminalpolizei Lemfeld. Das ist meine Kollegin Frau von Stietencron. Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen. Dürfen wir hereinkommen?«
Die Frau nickte.
Auf dem Flur standen Plastiksäcke voller Abfall. In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr. Das Wohnzimmer war über und über mit Zeitschriften, Vasen, Gläsern, leeren Flaschen und Plastiktüten bedeckt, von denen Alex nicht wissen wollte, was sich darin befand. Vertrocknete Pflanzen standen auf der Fensterbank, das Regal daneben war mit Hunderten alter Langspielplatten vollgestopft.
Alex stutzte für einen Moment. Dann sah sie sich weiter um.
In der Mitte des Wohnzimmers befand sich eine leberwurstfarbene Couchgarnitur, auf der Schneider und Alex zwischen Kissen, einem Bataillon gehäkelter Teddybären und Bergen von zerknitterter Wäsche Platz fanden, während sich die Frau in einen löchrigen Sessel setzte. Auf dem Sessel ihr gegenüber thronte eine Porzellanpuppe mit rosigen Wangen auf einem hellblauen Kissen. Sie stellte einen Jungen mit Seppelhosen und rotkariertem Hemd dar. Er erinnerte Alex an die sündhaft teuren Puppen von Käthe Kruse oder anderer Hersteller, die manchmal in den Verkaufskanälen im Fernsehen angeboten wurden. Sie war fast so groß wie ein Kleinkind und starrte aus gläsernen Augen in das Chaos, das nach Staub, Altersheim, Schweiß und Schimmel roch. Neben der Puppe lag ein aufgeschlagenes Tarzan-Comicheft auf der Sessellehne – so, als habe die Puppe es gerade zur Seite gelegt, um den Besuchern zuzuhören.
Schneider zog seinen Spiralblock hervor und beugte sich mit einem jovialen Lächeln nach vorne. »Stricken Sie die Teddybären alle selbst? Die sind ja wirklich toll.«
»Ja«, sagte Ingelore Frentzen und nickte heftig. Ihr starrer und ausdrucksloser Blick glich dem der Puppe. Dann hob sie den knochigen Zeigefinger. »Aber sie werden gehäkelt, nicht gestrickt.«
»Ah, na klar.« Schneider spielte mit einem hellblauen Teddy herum und betrachtete sein Muster. »Hat meine Oma auch gemacht. War ihre große Leidenschaft. Oma hatte ihre Bären immer beim Weihnachtsbasar von der Arbeiterwohlfahrt zugunsten der Kinderklinik verkauft.«
»Ja, ja.« Ingelore Frentzen lächelte. Ihre Stimme erinnerte Alex ein wenig an die von Gollum aus dem Herrn der Ringe.
»Und der kleine Lümmel hier? War der beim Oktoberfest?« Schneider deutete nach rechts zu der Puppe. Alex verkniff sich ein Schmunzeln und versuchte dabei weiter, nicht durch die Nase zu atmen.
Die Frau lachte erfreut. Am Ausdruck in ihren Augen änderte sich jedoch nichts. »Der Emil trägt doch so gerne Trachten.«
»Ist ein richtiger Lausejunge, der Emil, was?«, lachte Schneider und löste seinen Schal.
»Ein ganz frecher Bub ist er manchmal. Da muss man schon mal hart durchgreifen.«
»Mhm«, machte Schneider. »War der Harald damals auch so ein Lausejunge? Ihr Sohn?«
Ingelore Frentzen nickte langsam. »Ein ganz schlimmer«, antwortete sie.
Ein ganz schlimmer, dachte Alex. In ihr bimmelte eine Alarmglocke. Noch nicht sehr laut, aber beständig. Sie fragte: »Wissen Sie, wo sich Harald derzeit aufhält?«
Sie schüttelte schwerfällig den Kopf. »Er ist schon vor langer Zeit gegangen.« Die Frau starrte vor sich hin, als sei sie gedanklich ganz woanders. Dann hob sie den Kopf und fragte: »Sind Sie wegen des Fernsehers hier?«
Alex konnte nirgends einen ausmachen. »Wir sind nicht wegen des Fernsehers hier. Wir sind von der Polizei und haben einige Fragen an Sie.«
Ingelore Frentzen nickte, wirkte aber nicht so, als ob sie verstanden habe. »Ich sehe doch immer so gerne den Musikantenstadl. Jemand wollte mir einen neuen Fernseher bringen, aber ich weiß nicht mehr, wer das war.«
Schneider fragte: »Wohin ist denn der Harald genau
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