Totenmond
wissen, dass jemand die Kommunikation von Hankemeier überwacht hat. Warum nicht ein unbekannter Zwillingsbruder – der zudem nicht mehr in Deutschland zu leben scheint und nirgends gemeldet ist. Vielleicht hat er irgendwo in Afrika gelebt? Ich weiß, das klingt vage. Aber ich finde, wir sollten allen Fährten nachgehen und diese zumindest ausschließen können, indem wir etwas mehr über diesen Harald erfahren.«
Reineking kratzte sich an der Schläfe. »Vielleicht lügt Hankemeier auch, und die zwei bilden ein Team. Der Bruder macht dort weiter, wo der andere aufgehört hat.«
»Oder er ist der Trittbrettfahrer«, fügte Veronika hinzu. »Also gut. Sprich mit Ingelore Frentzen, Alex. Ich schaue mir diesen Heimpädagogen einmal genauer an.«
Schneider stand schwerfällig auf und warf einen Blick auf die Uhr. »Na dann mal auf, Kollegen. Das Wetter soll sich verschlechtern, und bis Bad Oberwalde sind es ein paar Meilen.«
77.
M ia rubbelte sich gerade die Haare trocken, als es an der Tür schellte. Hannibal linste um die Ecke, zuckte zusammen und lief wieder weg. Zu schade, dachte Mia, dass Alex ihn bald abholen würde.
Als es erneut schellte, zischte sie ein leises »Shit«, stellte die Kaffeetasse auf dem Waschbecken ab, zog den Bademantel ihres Vaters an und patschte mit nackten Füßen über die Eichendielen. Die Uhr auf dem Flur zeigte kurz vor zwölf. Mia war eben erst wieder nach Hause gekommen. Dad hatte eine SMS geschickt, dass noch Essen im Kühlschrank stehe und er heute früher aus dem Büro käme und Alex sich wegen des Katers melden wolle.
Wahrscheinlich, dachte Mia, als sie den Hörer der Gegensprechanlage aus der Halterung herausnahm und ans Ohr presste, war es der Paketdienst, weil Paps mal wieder etwas im Internet bestellt hatte. Die kamen meistens gegen Mittag.
»Ja?«, sagte sie in die Sprechmuschel.
»Stadtwerke«, hörte sie die Stimme eines Mannes. »Ich komme, um den Zählerstand abzulesen.«
»Aha.« Mia drückte auf den Türöffner. Dann sprintete sie in ihr Zimmer, schlüpfte in Unterwäsche und Jeans, zog schnell ein T-Shirt und eine Trainingsjacke über und versuchte im Zurückgehen, ein Paar Socken überzustreifen, als es bereits an der Wohnungstür klopfte.
»Moment«, rief Mia, balancierte auf einem Fuß, zog den noch fehlenden Strumpf an und öffnete.
Der Stadtwerketyp mochte Mitte vierzig sein. Er trug eine dicke Daunenjacke, hielt ein Klemmbrett mit irgendeinem Ablesegerät in der Hand und hatte eine Kordel um den Hals hängen, an der ein laminierter Ausweis baumelte.
»Tag, Stadtwerke«, stellte er sich nochmals vor und nickte. »Ich lese nur kurz den Zählerstand ab, dann bin ich wieder verschwunden. Der Zähler ist in der Küche, nicht?«
»Öhm.« Woher sollte Mia denn wissen, wo Papas Zähler war? »Ja, möglich.« Sie öffnete die Tür und trat einen Schritt zurück. »Die Küche ist da vorne«, erklärte sie mit einem Kopfnicken.
»Ah ja«, lächelte der Mann und nahm sein Ablesegerät zur Hand.
Mia drehte sich um, um vorzugehen. Im nächsten Moment bohrte sich ihr etwas in den Nacken und schien ihr einen Tritt ins Genick zu verpassen. Als sie die Augen wieder öffnete, fühlte sich ihr Körper an, als seien sämtliche Muskeln schlagartig übersäuert. Sie lag auf dem Rücken, Speichel lief ihr aus dem Mundwinkel. Der Stadtwerketyp kniete auf ihrem Bauch und nahm die Kordel vom Hals ab. Mia wollte gerade losschreien, als er sein Gerät, das offenbar nicht zum Ablesen von Strom, sondern zum Verteilen von Strom gedacht war, an ihre Halsschlagader presste. Ein weiterer Schlag durchfuhr ihren Körper.
78.
D as kleine Einfamilienhaus lag abseits der Hauptstraße. An einigen Stellen bröckelte der Putz. Lange Risse zogen sich vom Dach bis zum Boden. Darunter kam das blanke Mauerwerk zum Vorschein. Der ungepflegte Eindruck wuchs mit jedem Meter, den Schneider und Alex zurücklegten. Ein Vorgarten versteckte sich unter einer dicken Schneedecke, schiefe und vereiste Steintreppen führten in einen mit Moos und Frostblumen überzogenen Windfang vor der Haustür, neben der ein randvoller gelber Sack und weiterer Abfall standen. Über dem Dach breitete sich ein Himmel aus, der die Farbe des Schnees angenommen hatte. Ein konstanter Wind peitschte kleine Flocken durch die Luft, die Vorboten des angekündigten Schneesturms, der wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Ein grelles Schellen erklang, als Schneider den Klingelknopf drückte. Schlurfende Schritte
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