Totenmond
Türgriff und hielt einen Moment inne.
»Eigentlich«, sagte sie leise, »wäre das jetzt der Moment, dich zu fragen, ob ich dir für das Chauffieren wenigstens noch einen Kaffee anbieten kann, aber …« Sie zögerte. Aber – was? Gab es denn ein Aber? Doch, gab es. »… aber vielleicht ist das heute keine so gute Idee. Wie gesagt – ich habe noch etwas zu tun.« Sie lächelte entschuldigend und hätte sich im gleichen Moment am liebsten selbst in den Hintern getreten.
Jan sah sie an wie ein kleiner Junge, der nach einem Stück Schokolade gefragt und es nicht bekommen hatte. Er sagte: »Demnächst vielleicht, Alex. Schlaf gut.«
Dann sah Alex ein zweites Mal an diesem Abend den Rücklichtern seines Wagens hinterher. Als sie verschwunden waren, nahm sie den Hausschlüssel aus der Tasche und blickte sich um. Etwa zwanzig Meter weiter hielt an der gegenüberliegenden Straßenseite ein Streifenwagen. Ihre Bewacher waren also bereits eingetroffen. Die Ärmsten mussten sich ihretwegen nun die eiskalte Nacht um die Ohren schlagen.
Nein, dachte Alex beim Reingehen. Nicht wegen ihr. Sondern wegen ihm. Wer auch immer er war.
26.
D -Day. Heiligabend. Mit schweißnassen Händen am Lenkrad und verspanntem Nacken hatte Alex den Mini auf der Autobahn Asphalt fressen lassen, den Kofferraum voller Geschenke, die sie am Morgen noch in letzter Minute besorgt und verpackt hatte. Die ganze Fahrt über waren drei Lieder ihre Begleiter gewesen, die sie gestern Abend noch auf den iPod überspielt hatte.
Bad Moon Rising, Moonlight Shadow, Moon over Bourbon Street – inzwischen konnte sie jedes auswendig. Was wollte der Täter damit sagen?, hatte Alex sich immer wieder gefragt. Doch die Lieder hatten ihre Geheimnisse nicht preisgegeben.
Um halb fünf war Alex mit dem Mini schließlich in die Einfahrt ihres Elternhauses gebogen. Gerade noch rechtzeitig. Neben Dads Mercedes und Mums Porsche parkte der X5, der ihrer älteren Schwester Jule und deren Mann Sebastian gehörte. Auf der Rückscheibe verkündete ein Aufkleber, dass »Larissa on Board« sei.
Alex konnte hinter einer weiten weißen Schneefläche das graubraune Band des Rheins erkennen, als sie aus dem Wagen ausstieg und die Geschenktüten aus dem Kofferraum holte. Die weiße Gründerzeit-Villa im linksrheinischen Oberkassel lag unweit der Wiesen eines Flussbogens in einer der teuersten Stadtlagen.
Alex war zur Tür gehastet und hatte mit dem Ellbogen den Klingelknopf gedrückt. Nach dem Öffnen hatte sie Mama mit großem »Hallo« geherzt, die heute ein champagnerfarbenes Kostüm trug. Schließlich gab es ein Bussi von Papa, der Alex um Haupteslänge überragte und einen dunkelblauen Zweireiher anhatte. Dann war Jule an der Reihe, Küsschen auf die Bäckchen, und schließlich Alex’ Nichte Larissa, die sich verschämt lächelnd zunächst hinter Jule versteckt und Alex’ Taschen voller Geschenke nicht aus den Augen gelassen hatte. Sebastian begrüßte sie gewohnt reserviert und nur mit Handschlag. Jules Mann trug unter seinem Hemd eines dieser schnöseligen Seidenhalstücher. In Düsseldorf läge der Schnee ja ganz schön hoch, sagte er, um irgendetwas zu sagen. Alex hatte geantwortet: »Ach, ich dachte, das sei alles Koks und deswegen die Mieten hier so teuer.«
Ansonsten war die Atmosphäre befremdlich gelöst und entspannt. Das war Alex schon beim Kaffee aufgefallen. Entweder die Ruhe vor dem Sturm oder aber die Vorboten von etwas Unfassbarem: einem ganz normalen Weihnachtsfest ohne Streit, Tränen, Vorwürfe, aufgewärmten Zwist sowie einer Mama, die einmal nicht spätestens nach dem Abendessen die Eineinhalb-Promille-Grenze überschritten hatte. Sie trank jedoch den ganzen Abend lang Mineralwasser statt ein »Veuvchen« nach dem anderen. Ein vielsagender Blick von Mum hatte ihr bestätigt, dass sie wusste, dass Alex es bemerkt hatte.
Unter dem riesigen Tannenbaum hatten Berge von Geschenken gelegen, und das Leuchten in Larissas Augen erwärmte Alex’ Herz. Ihre Nichte war jetzt fünf Jahre alt und wusste zwar, dass Eltern, Tanten und Großeltern mit Sicherheit irgendeine Rolle in Bezug auf Geschenke spielten. Der Weihnachtsmann aber auch. Es war zu süß, zu verfolgen, wie die Kleine versuchte, diese beiden Tatsachen unter einen Hut zu bringen.
Jetzt war Larissa mit der Playmobil-Polizeistation beschäftigt, die Alex ihr geschenkt hatte. Mit echter Gefängniszelle! Jule saß daneben. Sie trug die mit Diamanten besetzte Kette, die sie von Basti bekommen
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