Totenmond
können.«
Alex nickte und folgte ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Dad strahlte wie die Julisonne, als er sich über die Sofalehne umdrehte und durch die Zähne pfiff.
»Es ist sooo toll«, sagte Jule und faltete ergriffen die Hände. Sogar Sebastian schnalzte mit der Zunge. Er fragte: »Ist das die neue Polizeiuniform?«
»Das könnte dir so passen«, sagte Alex.
Basti drehte sich stumm um und widmete sich wieder dem Cognacschwenker, während Dad aufstand, »todschick« murmelte und Alex umkreiste. »So würde ich dich gerne mit zum nächsten Ball der Wirtschaft nehmen.«
»Damit alle denken, er hat jetzt eine Jüngere?« Mum hob die Augenbrauen und boxte Dad spielerisch an die Schulter.
»Na, warum denn nicht.« Er hob einladend einen Arm, damit sich Alex darin einhaken konnte. Sie kam der Geste nach. »Begleiten Sie mich nach oben, Madame?«
»Oben?« Alex hob fragend die Augenbrauen. Oben war der Olymp. Das Heiligtum. Dads Tempel. Niemand wurde nach oben gebeten, wenn es nicht um etwas wirklich Wichtiges ging.
»Oben«, wiederholte er. »Teambesprechung.«
27.
D as Arbeitszimmer lag im ersten Stock und sah so aus, wie man sich das Büro eines Anwalts in der New Yorker Upper East Side vorstellen würde. Wahrscheinlich hatte Dad es deswegen auch so einrichten lassen. Ein dunkler Raum, die Decke in der Farbe der Regalwände mit tiefbraunem Holz vertäfelt. In Leder gebundene Buchrücken reihten sich aneinander, dazwischen standen Aktenordner, gerahmte Urkunden und Golftrophäen. Auf dem wuchtigen Schreibtisch thronte die unvermeidliche Lampe mit grünem Glasschirm und goldenem Fuß. Der Sessel davor war mit genopptem, weinrotem Leder bezogen – ebenfalls das niedrige Ecksofa, auf dem Dad nun wie zu einer geschäftlichen Besprechung Platz nahm. Auf dem runden Glastisch vor ihm stand ein Aschenbecher aus Messing, und der ganze Raum duftete nach aromatischem Pfeifentabak – ein Geruch, den Alex an jedem Platz der Welt wiedererkennen und wissen würde, dass ihr Vater in der Nähe sein musste.
»Setz dich zu mir.«
Dad klopfte mit der flachen Hand auf das Sofaleder. Er fuhr sich durch die Haare, knöpfte sich den Zweireiher auf und lockerte die Krawatte. Er nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und massierte sich den Nasenrücken. Dann lehnte er sich nach hinten, schlug die Beine übereinander und musterte seine Tochter. »Sebastian geht mir schrecklich auf die Nerven.«
Alex musste laut lachen. »Ich dachte immer, du hältst so große Stücke auf ihn?«
Dad schmunzelte. »Er ist ein guter Anwalt. Er ist der Vater meiner Enkeltochter. Jule liebt ihn. Aber du und ich wissen, dass er ein Vollidiot und Aufschneider ist.«
Alex’ Augen wurden groß, und ihr Mund stand offen.
»Weißt du, weshalb ich unbedingt wollte, dass du Alexandra heißt? Weil wir zwei aus demselben Holz geschnitzt sind. Alexandra und Alexander. Ich habe es in deinen Augen gesehen. Als ich dich zum ersten Mal in den Armen hielt. Du warst zwar gerade erst einen Tag alt. Deswegen ist es ja auch so schade, dass …« Dad machte eine Pause. Dann winkte er ab. »Ehrlich gesagt, ich habe nie wirklich damit gerechnet, dass du einmal in die Kanzlei einsteigst. Aber gewünscht habe ich es mir immer.«
Alex seufzte. Ja, Dad hatte es sich sogar so sehr gewünscht, dass er Alex fast verstoßen hätte, als sie ihm offenbarte, dass sie nach dem Abbruch ihres Medizinstudiums zur Polizei gehen und Psychologie studieren wolle. In den Holzwänden des Arbeitszimmers hingen noch die Echos zahlloser Streitgespräche. Alex wollte gerade fragen, warum er erst jetzt zugab, dass er insgeheim immer gewusst hatte, dass ein Leben als Anwältin nichts für sie war, als er unvermittelt fragte: »Was machen die Männer?«
Damit schnitt Dad sein zweites Lieblingsthema an. Alex zuckte mit den Schultern und klemmte sich die Hände unter die Achseln. »Ich habe viel Arbeit, und da bleibt nicht viel Zeit, wie du weißt – aber ich wiederhole mich immer gerne wieder …«
»Versteck dich nicht hinter dem Job. Ich habe das selbst jahrelang getan. Dadurch ist mir viel entgangen. Aber mehr noch …« Er beugte sich vor und strich Alex mit der Hand über die Wange. Sein Gesicht nahm weiche Züge an. »Lass die Toten ruhen. Ich weiß, dass es dich nervt, wenn ich das sage. Aber du bist meine Tochter, und deswegen nehme ich es mir heraus, und du musst es dir anhören. Lass die Schatten endlich hinter dir.«
Er spielte auf Benji an. Benji, ihren verstorbenen Freund.
Weitere Kostenlose Bücher