Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
Rückfahrt ins historische Viertel dauerte doppelt so lange wie normal. Obwohl es erst kurz nach fünf war, herrschte bereits tiefe Nacht. Die Straßenlaternen brannten, die Läden schlossen, Fußgänger eilten gesenkten Kopfes voran, Taschen und Päckchen an die Brust gedrückt.
Vom Boulevard René-Lévesque bog ich in die Rue Berri ein, folgte ihr bis zu ihrem Südende und schlich dann über die Rue de la Commune nach Westen. Rechts von uns schlängelten sich die Gässchen von Vieux-Montréal den Hügel hoch. Links lagen Marché Bonsecours, Pavillon Jacques-Cartier, Centre de Sciences de Montréal und dahinter der St. Lawrence, dessen Wasser schwarz glänzte wie ebenholzfarbenes Eis.
»Es ist wunderschön«, sagte Anne. »Auf seine arktische Art.«
»Gleich kommt das Karibu.«
In den eisfreien Monaten dümpeln Schiffe an Kais, die vom Ufer ins Wasser ragen, und Radfahrer, Skateboarder, Picknicker und Touristen bevölkern die angrenzenden Parks und Promenaden. An diesem Abend war das Flussufer still und dunkel.
An der Spitze der Place d’Youville bog ich in eine kleine Seitenstraße ein und parkte gegenüber dem alten Zollhaus. Von dort stapfte ich hügelabwärts, und Anne folgte mir, wobei sie schwankend versuchte, in meine Stiefelspuren zu treten.
Als ich über den Fluss schaute, fiel mein Blick auf den schneeverhangenen Umriss des Habitat 67. Der Wohnkomplex, gebaut für die Weltausstellung, ist eine Anhäufung von geometrischen Würfeln, die die Gesetze der Balance auszuhebeln scheint. Entstanden mehr aus der Phantasie denn aus architektonischem Pragmatismus, sind die Gehwege und Innenhöfe des Habitat im Sommer ein Vergnügen, im Winter jedoch eine Einladung zur Unterkühlung.
Andrew Ryan wohnte im Habitat.
Eine Vielzahl von Fragen bedrängte meine Konzentration.
Wo war Ryan? Was empfand er? Was empfand ich? Was hatte er gemeint? Dass wir reden müssten. Stimmt. Aber worüber? Bindung? Kompromiss? Ende?
Ich schob die Fragen beiseite. Ryan arbeitete an einer großen Sache und dachte oder fühlte gar nichts, was mit mir zu tun hatte.
An der Commune betraten wir ein futuristisches graues Steingebäude, nichts als spitze Ecken und schiefe Winkel. Hoch oben an einem der Türme prangte ein Spruchband: ICI NAQUIT MONTRÉAL. Wo Montreal geboren wurde.
»Wo sind wir hier?« Anne stampfte Schnee auf den grünen Fliesenboden.
»Pointe-à-Callière, Montreals Museum für Archäologie und Geschichte.«
Das Gesicht eines Mannes kam unter einem kreisrunden Schreibtisch hervor. Es war hager und blass und hatte eine Rasur nötig.
»Tut mir Leid.« Der Mann stand auf und deutete auf ein Schild. Er trug einen Armeeparka und hielt in einer Hand einen Stiefel. »Das Museum ist geschlossen.«
»Ich habe einen Termin mit Dr. Mousseau.«
Überraschung. »Ihren Namen, bitte?«
»Tempe Brennan.«
Der Mann tippte eine Nummer ins Telefon, sagte ein paar Worte und legte den Hörer auf.
»Dr. Mousseau ist in der Krypta. Kennen Sie den Weg?«
»Ja, vielen Dank.«
Wir durchquerten das Foyer, gingen eine Eisentreppe hinunter und betraten eine kleine, weich ausgeleuchtete Vorhalle, deren Wände und Boden vollständig aus Stein bestanden.
»Ich komme mir vor wie Alice, die den Hutmacher durch den Tunnel jagt.«
»Wo heute dieses Museum steht, befand sich Montreals erste Siedlung. Die Ausstellung zeigt, wie die Stadt in den letzten drei Jahrhunderten gewachsen ist und sich verändert hat.«
Anne deutete mit ihren Handschuhen auf einen Mauerrest.
»Ein Teil der ursprünglichen Grundmauern?«
»Nein, aber alt.« Ich deutete zum anderen Ende des Korridors. »Dieser Gang liegt direkt unter der Place d’Youville. Ganz in der Nähe steht unser Auto. Was jetzt Straße ist, war früher ein Abwassermorast und davor ein Fluss.«
» Tempe? « Die Stimme hallte hohl von Fels und Beton wider. » Est-ce toi, Tempe? «
» C’est moi. «
» Ici. « Hier drüben.
»Wer ist Mousseau?«, flüsterte Anne.
»Die Archäologin des Museums.«
»Und die kennt sich mit Knöpfen aus?«
»Besser als ein Steiff-Teddy.«
Monique Mousseau arbeitete an einer der mehreren Dutzend Glasvitrinen an den Wänden der von der Vorhalle abgehenden Gänge. Auf einem Metallkarren neben ihr lagen eine Kamera, eine Lupe, ein Laptop, ein Schnellhefter und mehrere Bücher.
Als Mousseau uns sah, legte sie ein Objekt in die Vitrine zurück, schloss und verriegelte sie, nahm eine Harry-Potter-Brille ab, ließ sie vor ihrer Brust baumeln und eilte dann auf
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