Totennacht (German Edition)
waren wahrscheinlich längst verbaut. Trotzdem konnte er es kaum erwarten loszulegen.
Doch Kat schien ihn ausbremsen zu wollen. «Die Sache ist zu groß für uns. Womöglich haben wir eine tickende Zeitbombe in der Hand.»
Sie spielte auf die chinesische Weltraumexpedition an. In zwei Tagen sollten drei Astronauten auf dem Mond landen. Gut für China, möglicherweise schlimm für die Menschen in Pennsylvania.
«Du meinst, es könnte erneut passieren?», fragte Nick. «Nach all den Jahren?»
«Wer weiß?», entgegnete Kat. «Vielleicht ist unser Mann längst tot oder außer Landes.»
«Oder er wartet auf Freitag.»
«Genau. Du weißt also, was zu tun ist.»
Das wusste Nick. Und er sträubte sich dagegen. Allein daran zu denken bereitete ihm Kopfschmerzen.
«Wenn du willst, mache ich es», bot sich Kat an. «Ihre Kontaktdaten liegen noch irgendwo bei mir herum.»
Doch zweifellos hatte Nick die Telefonnummer im Kopf, und er wusste sehr wohl, dass kein Weg daran vorbeiführte, seine ehemalige Vorgesetzte anzurufen.
«Ich tu’s», sagte er.
«Heute Abend noch?»
«Ja, verdammt.»
Er rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her. Sein rechtes Knie schmerzte. Verfluchtes Wetter. Dunkle Sturmwolken hatten sich vor die Spätsommersonne geschoben. Schon klatschten erste Regentropfen auf die Windschutzscheibe.
In diesem Moment öffnete sich die Schultür, und eine erste Gruppe Schüler stürzte ins Freie. Sie rannten durch den zunehmenden Regen an den Straßenrand, wo eine Armada aus Kleinbussen und SUVs sie aufnahm. James kam mit der zweiten Gruppe. Er trottete auf den Crown Vic zu und nutzte seine Schultasche als Regenschutz. Als Nick ihm die flache Hand zum Abklatschen reichte, murmelte er bloß «Hi, Nick».
Nick konnte mit Kindern nicht viel anfangen. Er hielt die meisten schlicht für verwöhnt, laut und dämlich. James aber war eine Ausnahme. Er war höflich, neugierig, offen und intelligent.
An diesem Nachmittag verriet er davon nur wenig.
«Wie war der erste Schultag?», fragte Nick.
«Okay», antwortete James und seufzte.
«Was Schönes gelernt?»
«Nein.»
«Wo ist deine Lunchbox?»
Die Frage kam von Kat, die über den Rückspiegel ihren Sohn musterte. James’ Antwort – ein gleichgültiges «Verloren gegangen» – gefiel ihr nicht.
«Mit Absicht oder aus Versehen?»
Er zuckte nur mit den Schultern, was darauf schließen ließ, dass er die Lunchbox nicht verloren, sondern entsorgt hatte. Kopfschüttelnd startete Kat den Motor und fuhr los.
Es regnete jetzt wie aus Kübeln. Das Sturmtief hatte sich endgültig durchgesetzt, und in Windeseile stand die Straße unter Wasser.
«Du wirst sie also anrufen, sobald du wieder zu Hause bist, ja?», erinnerte sie Nick und schaltete den Scheibenwischer einen Gang höher.
Sie waren wieder beim Thema. «Sobald ich durch die Tür bin.»
«Wehe, wenn nicht.» Kat drohte mit dem Zeigefinger. «Dann rufe ich sie an, darauf kannst du wetten.»
Nick warf einen Blick über die Schulter auf James, der ihm aufmunternd zunickte und mit dieser kleinen Geste wieder einmal bewies, was Nick so liebenswürdig an ihm fand. Und es war die Bestätigung dafür, dass sie beide, er und Nick, unabhängig von Alter und Herkunft, die beiden wichtigsten Männer in Kat Campbells Leben waren. Und beide wussten sie aus Erfahrung, dass es keinem von ihnen guttat, sich ihr zu widersetzen.
Nick hielt Wort. Nach Philadelphia in sein Apartment an der Chestnut Street zurückgekehrt, das zugleich der Sitz der Sarah-Donnelly Stiftung war, griff er sofort zum Hörer und wählte die Nummer, die er auswendig kannte.
Nach dem vierten Klingeln nahm sie den Anruf entgegen. Für ihre Verhältnisse recht spät.
«Hallo?» Ihre Stimme klang scharf und reserviert. Nick kannte sie so.
«Hallo, Gloria», grüßte er.
«Nick. Was verschafft mir das unerwartete Vergnügen?»
Captain Gloria Ambrose war seine Chefin im Kriminalkommissariat der Landespolizei von Pennsylvania gewesen. Obwohl niemals befreundet, waren sie doch gut miteinander zurechtgekommen und schätzten einander, nicht zuletzt deshalb, weil beide einen ähnlich ausgeprägten Gerechtigkeitssinn am jeweils anderen wiederzuerkennen glaubten. Darum hatte Nick sich auch darauf verlassen, dass sie ihm den Rücken stärken würde, wenn er einmal in Bedrängnis käme.
Er hatte sich getäuscht und seinen Dienst quittieren müssen. Und an eine Wiedereinstellung war nicht zu denken, jedenfalls nicht in Pennsylvania und schon gar nicht bei
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