Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totennacht (German Edition)

Totennacht (German Edition)

Titel: Totennacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
Vom Netzwerk:
Stattdessen zeigte es eine Art Leinwandhelden mit verschränkten Armen und schief sitzendem Hut.
    Genauso lässig zeigte sich Lee auf den anderen Fotos, die seine Karriere als Kampfpilot, potenziellen Astronauten und Parlamentarier dokumentierten. Sie unterschieden sich nur in Details voneinander. Aus Schwarzweiß wurde Farbe. Uniform, NASA-Overall und Dreiteiler wechselten einander ab. Das Haar schien von Foto zu Foto länger zu werden und verwandelte sich von der Fünfziger-Jahre-Bürste in die Matte der Siebziger.
    «Charlie hörte liebend gern, was mein Mann über sein Astronautentraining zu erzählen hatte.» Becky zeigte auf ein Foto, auf dem Lee und Buzz Aldrin zu sehen waren, die vor einem Flugzeug-Hangar standen und sich den Bauch vor Lachen hielten. «Die NASA wollte Lee auf den Mond schicken. Es hieß, er sei einer der besten Kandidaten, die es je gegeben habe. Er aber wollte dem Volk lieber als Abgeordneter dienen.»
    Kat kannte eine andere Geschichte, eine Version, nach der Lee schon nach kurzer Zeit aus dem Ausbildungsprogramm aussortiert worden war und dann in die Politik ging, weil er einfach nichts Besseres zu tun hatte. Dass eine solche Zurückweisung schmerzlich gewesen sein musste, stand außer Frage. War Lee darüber verbittert?, fragte sich Kat. Wahrscheinlich. So verbittert, dass er jede erfolgreiche Apollo-Mission zum Anlass nahm, ein Kind zu entführen? Möglich.
    Becky machte jetzt auf ein Foto aufmerksam, das aus einer Zeitung ausgeschnitten war und Lee, noch in Uniform, an der Seite einer zarten Schönheit in Weiß und mit Schärpe zeigte.
    «Das war in der Nacht, als wir uns kennengelernt haben», sagte sie. «Bei der Miss-Pennsylvania-Wahl 1962. Ich war die zweite Siegerin, was ebenso viel bedeutet wie der Gewinn der Krone.»
    Kat las die Bildunterschrift. Capt. Lee Santangelo und Miss-Bucks-County Rebecca Bateman . Um das Foto herum waren weitere Bilder aufgehängt: Lee beim Amtsantritt in Begleitung von Becky mit einem Pillbox-Hütchen à la Jackie Kennedy, Lee vor dem Weißen Haus mit Richard Nixon, Lee mit dem Bürgermeisterschlüssel in irgendeiner Stadt, Lee im Gespräch mit Schülern, in einem Freizeitlager, vor einer Kirche. Jedes dieser Fotos war am Rahmen mit einer Plakette versehen, die den Ort und das Datum dokumentierte. Grundschule Perry Hollow, 1969; St. Paul’s Methodist Church, 1972.
    «Danke, dass Sie uns all das gezeigt haben», sagte Kat. «Es war sehr aufschlussreich.»
    «Freut mich, wenn es Ihnen gefallen hat», entgegnete Becky ebenso heuchlerisch. «Gibt es sonst noch etwas?»
    «Nun, wir würden uns gern noch mit Ihrem Mann unterhalten. Vielleicht erinnert er sich an weitere Einzelheiten.»
    Becky Santangelo lachte laut auf, ein Ausbruch, der so schrill wie unangemessen war. Es hallte von den Wänden des Raumes wider, der der Lebensleistung ihres Mannes gewidmet war.
    «Ich fürchte, dafür ist es ein wenig zu spät.»
    «Ist er unterwegs?», fragte Kat.
    «Natürlich nicht.»
    «Dann würde ich ihn jetzt gern sprechen.»
    «Es wäre mir lieber, Sie verzichteten darauf.»
    Sie musterte Kats Dienstabzeichen und die Handschellen am Gürtel, als handelte es sich um Accessoires aus der Gothic-Szene. Ihr verächtliches Schnaufen machte deutlich, was sie von dieser Aufmachung hielt. Kat ließ das unausgesprochene Urteil kalt. Sie mochte ihre Uniform und alles, was dazugehörte.
    «Dann muss ich mich wohl deutlicher ausdrücken», sagte sie. «Ich bitte nicht darum, Ihren Mann sprechen zu dürfen. Ich fordere es.»
    Becky schnaufte wieder. «Na gut, aber Sie werden enttäuscht sein.»
    Sie sollte recht behalten.
    Schon als Becky die beiden nach oben ins Schlafzimmer ihres Gatten führte, beschlich Kat ein ungutes Gefühl. Lee Santangelo saß in einem Polstersessel. Auf den ersten Blick war von ihm nur ein Hemdsärmel zu sehen, der auf der Armlehne lag. Eine knotige Hand voller Altersflecken ragte daraus hervor.
    Die einzigen Möbelstücke im Zimmer waren ein Krankenhausbett mit Seitengitter und ein stumm geschalteter Flachbildschirm, auf dem sich Delfine inmitten eines silbrig schillernden Fischschwarms tummelten.
    «Er reagiert auf Farben», erklärte Becky. «Akustische Signale nimmt er nicht wahr.»
    Kat trat vorsichtig näher, bis sie Lee ins Gesicht sehen konnte. Es war bleich und erschreckend knochig. Die Haut, transparent wie Wachspapier, spannte sich um den Schädel, und auf der Stirn traten die Adern so deutlich hervor, dass einzelne Farbschattierungen –

Weitere Kostenlose Bücher