Totennacht (German Edition)
anderen die Schuld an Charlies Verschwinden zu geben. Sie dachte an das eine rätselhafte Wort, das zusammenzufassen schien, was die Ehe zerrüttet hatte – Badewanne .
Eric wirkte betroffen und schickte sich an, nach draußen zu gehen. Becky stellte sich ihm in den Weg.
«Ich bin noch nicht fertig», sagte sie. «Wollen Sie wissen, wer Ihre Mutter in den Wahnsinn getrieben hat?»
Erics Antwort war kurz und bündig. «Nein.»
Becky aber ließ sich nicht aufhalten und tippte mit dem ausgestreckten Zeigefinger an Erics Brust. «Sie. Und zwar von dem Zeitpunkt an, als Sie zur Welt gekommen sind. Da ist bei Ihrer Mutter irgendeine Sicherung durchgebrannt.»
Eric packte ihre Hand und presste seine Finger um ihre Fingerknöchel. Becky schnappte nach Luft. So auch Kat, weil sie fürchtete, er würde ihr die Hand zerquetschen. Kräftig genug war er und auch wütend genug, wie es schien.
«Was Sie über meine Familie sagen, juckt mich wenig. Mich interessiert vielmehr, was Sie verheimlichen, Mrs. Santangelo. Und ich werde keine Ruhe geben, ehe ich nicht weiß, was es ist.»
Er ließ ihre Hand los und ging nach draußen. Ohne auf Kat zu warten, bog er in die Straße ein und marschierte Richtung Stadtmitte. Kat wollte ihm folgen. Sie fühlte sich dazu verpflichtet, sah aber seinen strammen Schritten an, dass es besser war, ihn in Ruhe zu lassen.
Der Besuch im Haus der Santangelos hatte nichts ergeben. Weitere Fragen erübrigten sich. Zu viel war bereits gesagt worden. Kat blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls das Feld zu räumen. Als sie an Becky Santangelo vorbei nach draußen ging, gab die alte Frau zum ersten Mal an diesem Vormittag keinen Mucks von sich.
13
Eric rang nach Luft, als er den Oak-Knoll-Friedhof erreichte. Seine Wut nahm ihm den Atem. Er fürchtete, daran zu ersticken, eilte aber trotzdem an den Grabreihen entlang.
Vor dem Grabstein seiner Mutter beugte er den Oberkörper weit nach vorn und atmete bewusst langsam ein und aus, bis er sich wieder halbwegs beruhigt hatte.
«Miststück», murmelte er.
Im Unterschied zu Kat hatte er sich von dem Besuch bei den Santangelos von Anfang an nichts Gutes versprochen. Es musste schließlich einen Grund für die jahrzehntelange Feindschaft zwischen ihnen und seiner Mutter gegeben haben. Trotzdem war er auf Beckys Tiraden nicht gefasst gewesen.
«Verdammtes Lügenmaul», fluchte er, obwohl ihm klar war, dass Becky Santangelo die Wahrheit gesagt hatte und nur für einen Teil seiner Wut verantwortlich gemacht werden konnte.
Diese Einsicht war ihm gekommen, als Becky mit dem Finger an seine Brust getippt hatte. Seine Mutter war in der Tat verrückt gewesen – vor Kummer und Einsamkeit. Das hatte ihn in Rage gebracht. Mrs. Santangelo gab zwar ein treffliches Ziel für seine Wut ab, doch Eric wusste, dass er in erster Linie auf sich selbst wütend war. Darauf, dass er sich immer etwas vorgemacht hatte, was das absonderliche Verhalten seiner Mutter anging, dass er es als exzentrisch abgetan hatte und dass er sie – was am schwersten wog – im Stich gelassen hatte, statt ihr eine Hilfe zu sein.
Seine Wangen glühten vor Scham, als er an die Nacht zurückdachte, in der er Perry Hollow verlassen hatte. Schon Monate vorher war der Plan in ihm gereift. Er hatte sich um einen Studienplatz an der NYU beworben, obwohl für seine Mutter aus Geldgründen nur die Penn State in Frage gekommen war. Er hatte sie in dem Glauben gelassen, dass er ihrem Wunsch entsprechen werde, sich aber heimlich an der Uni in New York eingeschrieben und vorab über Anrufe aus öffentlichen Telefonzellen für die Finanzierung seines Studiums gesorgt. Der Freund des Cousins eines Freundes hatte ihm einen Ferienjob bei der New York Public Library vermittelt, und Eric war sogar so weit gegangen, unbesehen ein Zimmer anzumieten, ehe er im Herbst einen Platz im Studentenwohnheim fand.
Er war also fest entschlossen gewesen, sich gleich in der Nacht nach der Schulabschlussfeier aus dem Staub zu machen, per Autostopp zum Busbahnhof nach Mercerville und von dort aus mit dem Greyhound-Shuttle weiter nach Manhattan zu fahren. Den Sommer wollte er in völliger Anonymität fernab von Perry Hollow verbringen, in neuer Umgebung ganz neu anfangen, sich einen Namen machen und nicht mehr nur als der Bruder des Jungen bekannt sein, der vor Jahren von den Sunset Falls mitgerissen worden und verschollen war.
Der eigentliche Grund seiner Fluchtgedanken aber war, dass er es nicht länger ertragen konnte, mit
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