Totennacht (German Edition)
nun doch ein wenig an ihrem Geisteszustand zweifeln.
«Ich ermittele im Fall eines Jungen, der 1969 aus einer Stadt namens Perry Hollow spurlos verschwand», erklärte er. «Es besteht Grund zu der Annahme, dass dieser Fall in Verbindung zum Verschwinden Ihres Sohnes steht.»
Sophie Kepner seufzte ungehalten. «Wie viele sind Sie denn?»
Diesmal reagierte Nick verwirrt. «Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz.»
«Sie sind nicht der Einzige, der sich wegen Dennis erkundigt», erwiderte sie. «Einer von Ihnen ist schon im Haus.»
Nick spähte über die Schulter der Frau hinweg durch die Diele in ein kleines Esszimmer mit Glastüren zu einem traurigen, aufgeräumten Hinterhof. Links hinter der Eingangstür führten ausgetretene Stufen ins Obergeschoss, das die gehbehinderte Dame wohl nur mit Mühe erreichen konnte. Gegenüber der Treppe schien das Wohnzimmer zu liegen. Nick sah eine Tapete mit Blumenmuster, gerahmte Fotos und ein Sofa mit Spitzendeckchen auf der Armlehne. In einer Ecke, die er nicht einsehen konnte, knarrte ein Stuhl. Kurz darauf zeigte sich ein großer, kräftiger Mann im Türrahmen, gebaut wie ein gewisser kalifornischer Gouverneur.
Nick hätte ihn aus einer Meile Entfernung erkannt. Es war Tony Vasquez, einer seiner früheren Kollegen. Statt der Uniform, in der Nick ihn zu sehen gewohnt war, trug er einen schwarzen Anzug, der seine Muskeln kaum kaschieren konnte. Er stellte sich neben Mrs. Kepner und lächelte Nick an.
«Donnelly. Hab ich mir doch gleich gedacht, dass du hier aufkreuzt.»
Nick mochte und respektierte Tony. Er war ein tapferer Kerl. Sehr entschlossen. Als ehemaliger Finalist im Wettbewerb um den Bodybuildertitel Mr. Pennsylvania hätte er, wenn nötig, einen Autobus anheben können. Und wie das Leben so spielte, war er nach Nicks Rauswurf an dessen Stelle gerückt.
«Lieutenant Vasquez», grüßte Nick förmlich. «Wie kommt’s, dass ich dich hier antreffe?»
«Ich gehe dem Hinweis eines besorgten Mitbürgers nach.»
«Muss ich jetzt auch noch mit dem da reden?», fragte Mrs. Kepner den Lieutenant.
«Ich hätte dann jetzt alle Informationen, die ich brauche.» Tony schüttelte ihr die Hand und tätschelte ihren Unterarm. «Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.»
Tony hatte sich offenbar schon eine geraume Weile mit Mrs. Kepner unterhalten, wozu er, wie Nick ahnte, von Gloria aufgefordert worden war. Dass sie so schnell reagieren würde, hatte Nick nicht erwartet. Die Eile und Tonys Einbindung waren ein sicheres Zeichen dafür, dass auch Gloria die jeweiligen Vermisstenfälle miteinander in Zusammenhang brachte.
Sophie Kepner schloss Nick die Tür vor der Nase, dem nichts anderes übrig blieb, als dem zum Lieutenant aufgestiegenen ehemaligen Staatspolizisten zur Straße zu folgen.
Nick hatte nun nicht mehr nur in Sachen diverser vermisster Jungen zu ermitteln. Er hatte jetzt auch einen Mitstreiter.
12
«Möchten Sie beide einen Eistee?» Becky Santangelo hielt einen gefüllten Glaskrug in die Höhe. «Etwas anderes kann ich Ihnen im Augenblick nicht anbieten.»
Der Krug und die Gläser waren von einer erschöpft aussehenden Haushälterin in weißen Turnschuhen und einer blassblauen Strickjacke gebracht worden. Mrs. Santangelo hatte keinen Finger gerührt, aber ihre Botschaft war unmissverständlich: Sie fühlte sich von den Besuchern überrumpelt.
Nichtsdestotrotz gab sich Becky recht gelassen. Es schien, dass sie ständig mit Gästen rechnen musste. Erstaunlich gut gehalten für eine Frau um die siebzig, saß sie in einem gelben Chiffonkleid und mit Perlenkette auf ihrer Veranda. In ihrer Aufmachung und ihrer Haltung erinnerte sie Kat an Frauen aus Kinofilmen, in denen es um Südstaaten-Plantagen und Pferderennen ging.
Darüber hinaus strahlte sie jenen stumpf gewordenen Glanz aus, der auch die Heldinnen aus den Stücken von Tennessee Williams kennzeichnete. Das zurückgebürstete Haar hatte einen Blondton, der in der Natur nicht wiederzufinden war, und fiel lose bis auf den Rücken hinab. Das Kleid, viel zu jugendlich für ihr Alter, war an den Schultern ein wenig fadenscheinig geworden. Und wenn sie zu lächeln versuchte, blieb das Gesicht eigentümlich starr, was darauf schließen ließ, dass sich Mrs. Santangelo der Schönheit zuliebe schon etliche Male unters Messer begeben hatte.
Becky nippte geziert an ihrem Eistee und tätschelte Erics Knie. «Wie groß er geworden ist, der berühmte Autor. Und so hübsch. Sooft ich eines Ihrer Bücher
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