Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totennacht (German Edition)

Totennacht (German Edition)

Titel: Totennacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
Vom Netzwerk:
geraten waren oder aber kurz davorstanden. Vielen hat die Zeit hier gutgetan. Mit der Sonne aufstehen und ins Bett gehen. Lernen, mit anderen zurechtzukommen. Vielen von ihnen hat es genutzt, und darauf war ich stolz. Bis dann dieser Halsey-Junge aufkreuzte.»
    «Wann war das?», fragte Nick.
    «Im Juni 1971. Ihm hat es hier im Camp überhaupt nicht gefallen.»
    «War wohl kein Naturfreund?»
    «Man soll über Tote nicht schlecht sprechen», entgegnete Craig. «Aber er war ein Stadt-Punk, durch und durch. Große Schnauze. Angeberisches Getue. Erst zwölf Jahre alt, aber schon eine ellenlange Strafakte. Diebstahl, Sachbeschädigung und wegen Waffenbesitzes von der Schule geflogen.»
    Er brauchte nicht fortzufahren. Es war klar, dass Dwight Halsey kein Engel gewesen war.
    «Wie kam er mit den anderen Kindern zurecht?», fragte Nick.
    «Nicht besonders gut. Er machte Schwierigkeiten, von Anfang an.»
    Nick erinnerte sich an das Foto von Dwight aus Maggie Olmsteads Sammlung. Der finsteren Miene nach, die der Junge darauf zeigte, hatte es ihm überhaupt nicht gepasst, fotografiert zu werden.
    «Was für Schwierigkeiten?»
    «Die üblichen. Sie wissen, wie Jungen in diesem Alter sein können. Er hat andere gehänselt, beschimpft und manchmal auch zugeschlagen. Am Tag, bevor er verschwand, gab’s eine heftige Prügelei. Er hatte danach ein dickes Veilchen, wenn ich mich richtig erinnere.»
    Craig führte Nick an weiteren Einrichtungen des Lagers vorbei, die ebenso heruntergekommen und baufällig waren wie die Kantine. Im teilweise eingefallenen Toilettenhaus standen die Kloschüsseln unter freiem Himmel.
    «Wie kommen Sie darauf, dass Dwight Halsey weggelaufen ist?»
    «Er hat jeden Tag gesagt, dass er es hier bei uns nicht aushält. Als er von anderen Jungen als vermisst gemeldet wurde, war mein erster Gedanke daher, dass er vermutlich Reißaus genommen hat.»
    «Um sich dann in den Wäldern zu verirren?»
    «Davon sind wir ausgegangen. Die Polizei kam zu dem gleichen Schluss. Wer sich in den Wäldern ringsum nicht auskennt, hat sich schnell hoffnungslos verlaufen, Mr. Donnelly. Und dann kommt man da so leicht nicht wieder raus.»
    «Aber wenn er abhauen wollte, warum ist er dann nicht einfach der Straße gefolgt?»
    «Manchmal lässt sich das Verhalten eines Jungen nur schwer erklären.»
    Sie erreichten mehrere kleine Holzhütten, die im Kreis angeordnet und allesamt in erbärmlichem Zustand waren. Craig führte Nick auf eine Hütte zu, die zwar noch nicht völlig zusammengebrochen, aber von Moosen überwuchert war. Die Tür fehlte.
    «Das ist die Hütte, in der er untergebracht war.»
    Nick trat in die Türöffnung und blieb stehen. Er hatte am Vortag in der Mühle seine Lektion gelernt. Außer Spinngewebe, Vogelnestern und einer toten Maus am Boden sah er zwei in die Wand eingebaute Hochbetten. Feriengäste hatten ihre Namen ins Holz geritzt. Bobby, Kevin, Joe ... Einen Dwight entdeckte Nick nicht.
    «In jeder dieser Hütten schliefen vier Jungen», erklärte Craig. «Ziemlich beengt, das heißt, sie mussten lernen, sich zu arrangieren. Zur Nachtruhe war Dwight in seinem Bett. Ich habe mich selbst davon überzeugt.»
    «Um wie viel Uhr begann die Nachtruhe?», fragte Nick.
    «Um zehn. Geweckt wurde um sechs in der Früh. Da war sein Bett leer.»
    «Hat er irgendwas mitgenommen?»
    «Nicht dass ich wüsste. Seine Sachen waren alle noch da, unterm Bett verstaut.»
    «Würden Sie nicht Ihr Gepäck mitnehmen, wenn Sie weglaufen und nicht wieder zurückkehren wollen?»
    Craig Brewster strich sich mit der Hand über den Bart und dachte nach. «Ich nehme an, er wollte nicht riskieren, dass die anderen Jungen aufwachen, wenn er seine Sachen zusammenpackt.»
    «Die anderen Jungen haben also weder etwas gesehen noch gehört?»
    «So ist es, Sir.» Craig seufzte. «Die Polizei hat mir vor langer Zeit auch schon all diese Fragen gestellt und nicht nur mir, sondern auch den Feriengästen und den Betreuern. Niemand hat etwas gesehen, und alle dachten das Gleiche – dass sich Dwight in den Wäldern verirrt hat und darin umgekommen ist.»
    «Wer weiß? Vielleicht lebt er ja noch.»
    «Aber dann wäre er doch irgendwann wiederaufgetaucht», entgegnete Craig. «Und mir wäre vieles erspart geblieben.»
    Er führte Nick zur Rezeption zurück und berichtete, dass es nach Dwight Halseys Verschwinden mit dem Ferienlager bergab gegangen war. Im Sommer darauf waren nur noch halb so viele Gäste wie im Vorjahr gekommen, und in den

Weitere Kostenlose Bücher