Totenpech
weh, singt so süÃ, von dem hellen
Paradies.
Auf der zweiten Seite stand »die ersten Jahre«, und dann folgten
Eintragungen der genauen Geburtsstunde, des Wochentages, das Gewicht, die GröÃe
und der Name Sam in geschwungenen Lettern sowie eine dunkelbraune Haarlocke,
die aus einem kleinen hellblauen Umschlag herausschaute.
Die Schwarz-WeiÃ-Fotos zeigten ein glückliches Ehepaar in den
Sechzigerjahren neben einer Wiege, eine Mutter, die ihren Sohn in einer kleinen
Wanne badete, ein Vater, der ihm die Flasche gab, ein schreiendes Baby, ein mit
Brei verschmiertes Kind von einem Jahr. Diverse andere Fotos zeigten Sam in
unterschiedlichen Altersstufen. Das Album hörte auf, als Sam mit sechs Jahren
unter einem Tannenbaum saÃ, vor sich eine kleine Eisenbahn, die im Kreis fuhr.
Für Sam war es, als würde er sich das Album von fremden Leuten
ansehen.
Er wollte sich gerade das zweite Buch vornehmen, als es ein zweites
Mal an der Tür klopfte.
Sybille Winterfeld streckte dieses Mal Sam zur BegrüÃung die Hand
entgegen und holte dann ein beschriftetes Röhrchen mit Blut, ein Röhrchen mit
Speichel und einen kleinen Umschlag mit einer Haarlocke aus ihrer Tasche. Alles
legte sie nebeneinander auf den Tisch.
»Ich hoffe, das reicht. Die Haarlocke wurde Christine abgeschnitten,
als sie noch ein Baby war. Ich hoffe, das reicht zur Identifizierung oder zum DNA -Vergleich. Und
hier ist der Name des Zahnarztes. Ich weià allerdings nicht, ob er noch
praktiziert. Er war damals schon recht alt.«
Sam sah auf den Umschlag mit der Haarlocke und fragte sich, ob das
nur früher so üblich war, die ersten Haare seines Kindes aufzuheben und ins
Album zu kleben, oder ob Eltern das heute noch tun.
Sybille Winterfeld legte den Zettel mit dem Namen des Zahnarztes zu
den anderen beiden Sachen und starrte darauf. Dabei stützte sie sich mit beiden
Händen auf den Tisch. »Ich würde gerne wissen, was Sie gefunden haben.« Sie hob
den Kopf und sah Sam direkt in die Augen.
»Frau Winterfeld, warum vegetieren Ihre Eltern in diesem unwürdigen
Zustand dahin?«
Sybille Winterfeld antwortete nicht sofort. Sie sah Sam an und
schien zu überlegen, ob sie ihm überhaupt eine Erklärung schuldig war. Dann
atmete sie geräuschvoll ein und sagte kühl: »Für einen AuÃenstehenden sieht das
vielleicht so aus, Herr O âConnor.«
Ihre Augen wanderten von Sam zu der Haarlocke auf dem Tisch, bevor sie
schlieÃlich nach einer Pause fortfuhr: »Meine Mutter bekam nach dem
Verschwinden ihrer jüngsten Tochter einen leichten Schlaganfall, erholte sich
aber recht schnell wieder davon, während mein Vater langsam die Lust am Leben
verlor. Sein heutiger Zustand ist das Ergebnis eines langen psychischen Leidensweges.
Er hat es bis heute nicht verwunden, dass seine jüngste Tochter nicht mehr nach
Hause gekommen ist. Die Ungewissheit hat ihn innerlich zerfressen. Seit acht
Jahren ist er in dem Zustand, wie Sie ihn gesehen haben. Er wäscht, bürstet,
zieht die Puppen an und aus und redet mit ihnen. Meine Mutter hat ihn gepflegt,
bis sie vor zwei Jahren einen zweiten Schlaganfall erlitt, der sie ans Bett
fesselte. Ich dagegen arbeite den ganzen Tag, um einen zusätzlichen
Pflegedienst zu finanzieren, den die Kasse nicht zahlen will. Die letzten
Pfleger haben sich plötzlich nicht mehr blicken lassen, und als Sie in die
Wohnung kamen, war seit Tagen niemand mehr da gewesen. Ich arbeite, wie gesagt,
Tag und Nacht, und manchmal bin ich einfach zu müde, um mir das Elend
anzusehen. Aber wissen Sie was, es ist mir egal, was Leute wie Sie denken. Es ist
immer leicht, über andere zu urteilen und die Nase zu rümpfen, wenn man selbst
nicht in dieser Situation steckt.«
Sam musste ihr recht geben. Man urteilt oft zu schnell über andere
Menschen, ohne die Zusammenhänge und Ursachen zu verstehen. War er nicht selbst
nach dem Tod seiner Schwester schief angesehen worden und hatte die stummen
Vorwürfe in den Augen von manchen Kollegen gelesen?
Sie sah Sam wieder an und forderte ihn ohne Worte auf, nun seinen
Bericht abzuliefern.
»Na schön, offensichtlich bin ich jetzt dran.«
Sam nahm einen Schluck lauwarmen Kaffee und setzte die Tasse sofort
wieder ab. Mit viel Speichel versuchte er, den bitteren Geschmack, der sich in
seinem Mund ausbreitete, wieder loszuwerden.
»Wir haben eine mumifizierte Leiche gefunden, die zwischen fünf und
zehn
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