Totenpfad
verächtlich. «So einen hatten wir auch schon, aber der Typ hat nichts als Blödsinn verzapft. Homoerotik hier, Verdrängung da. Nichts als Bullshit.»
Ruth, die ebenfalls geglaubt hat, einen homoerotischen Unterton aus den Briefen herauszulesen (immer vorausgesetzt natürlich, der Verfasser ist tatsächlich ein Mann), erwidert auch darauf nichts. Stattdessen zieht sie die Briefe aus der Tasche.
«Ich habe die verschiedenen Anspielungen und Zitate in Kategorien unterteilt», sagt sie. «Das schien mir der beste Ausgangspunkt zu sein.»
«Eine Liste.» Nelson nickt anerkennend. «Ich arbeite immer gern mit Listen.»
«Ich auch.» Ruth zieht ihre sorgfältig erstellte Tabelle hervor und reicht sie Nelson.
Christentum
Prediger Salomo
Isaak
Weihnachten
Christi Tod am Kreuz/Ostern
Heilige Luzia
Luzia-Tag (21. Dezember)
Johannistag (24. Juni)
Allerheiligen (1. November)
Jeremias
Literatur
Shakespeare:
König Lear:
«Ein Mann könnt sehen, wie’s in der Welt zugeht, auch ohne Augen.»
Heinrich V.:
«… den leisen Schatten Harrys in der Nacht …»
Julius Cäsar:
«Gräber gähnten und spien Tote aus.»
T. S. Eliot:
Aschermittwoch:
«Wo Bäume blühn und Ursprung quillt; dort gilt kein Wiederum.»
Das wüste Land:
«Wir, die lebendig warn, sind nun am Sterben.»
Nordische Mythologie
Odin
der Wissensbaum (Weltenbaum, Yggdrasil)
Heidentum
Sommersonnenwende
Wintersonnenwende
Litha (angelsächsisches Wort für Sonnenwende)
Weidenmann
Sonnengott
Schamanismus
Irrlichter
Mistelzweige
Griechische Mythologie
Argus
Archäologie
Cursus
Dammweg
Nelson liest aufmerksam, mit angestrengt gerunzelter Stirn. «Gut, das mal alles so auf einen Blick zu sehen», sagt er schließlich. «Sonst weiß man ja doch nie, was wirklich ein Zitat ist und was nur irgendwelches Gefasel. Das hier zum Beispiel: ‹Wir, die lebendig warn, sind nun am Sterben.› Ich hätte gedacht, das ist wieder nur irgendeine gruselige Andeutung. Dass es ein Zitat ist, war mir nicht klar.»
Ruth, die mehrere Stunden über Eliots gesammelten Werken gebrütet hat, hört das mit einer gewissen Genugtuung.
Nelson wendet sich wieder der Liste zu. «Jede Menge Bibelkram», sagt er. «Das ist uns auch gleich aufgefallen. Der Psycho-Heini meinte, der Mann könnte vielleicht Laienprediger sein oder auch ein ehemaliger Priester.»
«Vielleicht ist er auch einfach nur in einem religiösen Umfeld aufgewachsen», sagt Ruth. «Meine Eltern sind beispielsweise Wiedererweckte Christen, die lesen ständig in der Bibel, einfach so zum Spaß.»
Nelson grunzt wieder. «Ich bin von Haus aus katholisch», sagt er, «aber meine Eltern hatten es nicht so mit der Bibel. Denen ging es mehr um die Heiligen. Ständig musste man zu irgendwem beten oder das Ave-Maria aufsagen. Jeden Tag zehn Rosenkränze – ich kann Ihnen sagen! Kam mir jedes Mal vor wie Stunden.»
«Sind Sie denn noch katholisch?», fragt Ruth.
«Ich habe die Mädchen taufen lassen, allerdings hauptsächlich, damit meine Mutter Ruhe gibt. Michelle ist nichtkatholisch, wir gehen praktisch nie in die Kirche. Keine Ahnung, ob ich noch katholisch bin. Wahrscheinlich bin ich eine Art Abtrünniger.»
«Die lassen einen eben nie so richtig aus den Fängen. Selbst wenn man nicht an Gott glaubt, ist man nur ‹abtrünnig›. Als könnte man jederzeit umkehren.»
«Das mache ich vielleicht sogar. Auf dem Sterbebett.»
«Ich nicht», erklärt Ruth leidenschaftlich. «Ich bin Atheistin. Nach dem Tod kommt einfach nichts mehr.»
«Schade eigentlich.» Nelson grinst. «Dann kann ja nie einer sagen: ‹Ätsch, ich hatte doch recht›.»
Ruth lacht überrascht auf, doch Nelson scheint diesen Vorstoß in weniger ernste Gefilde bereits zu bereuen und wendet sich wieder stirnrunzelnd der Liste zu.
«Und er hier?», fragt er. «Woran glaubt er?»
«Nun ja», sagt Ruth. «Er spricht auffallend viel von Tod und Wiedergeburt, den Jahreszeiten, den natürlichen Kreisläufen. Ich würde vermuten, dass er eher heidnisch orientiert ist, weil er beispielsweise Misteln erwähnt. Unter Druiden galten Misteln als heilig, daher auch der Brauch, sich unter dem Mistelzweig zu küssen.» Sie hält kurz inne. «Übrigens … unser Eisenzeitmädchen hatte Spuren von Misteln im Magen.»
«Im Magen?»
«Genau. Möglicherweise wurde sie gezwungen, die zu essen, ehe man sie getötet hat. Ich sagte ja bereits, dass Opferrituale in der Eisenzeit recht verbreitet
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