Totenpfad
deutet auf die Briefe. «Der redet doch auch von Schamanen.»
«Ja, unter modernen Esoterikanhängern ist es ein weitverbreiteter Glaube, dass es weise Männer gibt, die mit weißer Magie arbeiten.»
Nelson schaut wieder auf die Liste. «Und was sind Dammwege? Das Wort habe ich immerhin schon mal gehört.»
«Dammwege sind prähistorische Pfade, die häufig durch Moore oder Wasserläufe führen.» Ruth hält einen Moment inne. «Ich glaube sogar, ich habe kürzlich einen Dammweg im Salzmoor entdeckt, der direkt zum Henge führt. Eine Art verborgener Pfad, der durch eingesunkene Holzpfähle markiert wird. Eine ziemlich aufregende Sache.»
Nelson wirft ihr einen leicht zweifelnden Blick zu. «Dann ist unser Mann also entweder Heide oder Esoteriker, vielleicht auch ein religiöser Eiferer. Oder Archäologe.»
«Vielleicht sogar alles auf einmal. Oder er hat ein solidesHalbwissen auf allen vier Gebieten. Auf mich macht er jedenfalls den Eindruck, als würde er Wissen anhäufen wie einen Schatz. Nehmen Sie beispielsweise die Sache mit den Irrlichtern.»
«Ja, was hat es denn damit auf sich?»
«Irrlichter sieht man häufig über dem Moor, vor allem in den Nächten um die Sommersonnenwende. Sie locken Wanderer auf gefährliches Terrain und damit in den sicheren Tod.» Während sie das sagt, denkt Ruth an das unheimliche Phosphorlicht über dem Moor, das sie sah, als sie sich im Dunkeln verirrt hatte. Wenn David nicht gewesen wäre – wäre sie dann jetzt tot? «Um Irrlichter ranken sich zahllose Legenden. Manche Geschichten führen sie auf einen bösen Hufschmied zurück, der dem Teufel im Tausch gegen eine Flamme des Höllenfeuers seine Seele verkauft hat. Jetzt wandert er unter der Erde umher, sucht einen Weg zurück nach oben und leuchtet dabei mit seiner Flamme. In anderen Geschichten heißt es, Irrlichter seien die Seelen ermordeter Kinder.»
«Ermordete Kinder», sagt Nelson grimmig. «Genau darum geht es uns ja.»
Zu Hause wird Ruth vom klingelnden Telefon empfangen. Sie eilt hin und hört zur Belohnung die Stimme ihres Lieblings-Wikingers.
«Ruthie! Was gibt es Neues von unserem Dammweg?»
Sie erzählt ihm, dass bisher niemand von ihrer Entdeckung weiß. Doch als sie kürzlich bei David vorbeigeschaut hat, um ihm zum Dank eine Flasche Whisky zu schenken, hat er ihr einen Plan des Salzmoors mitgegeben, auf dem er die Pfähle eigenhändig eingezeichnet hat.
«Hervorragend», schnurrt Erik. «Dann sorg mal bloß dafür, dass der Techno-Freak nichts davon mitbekommt,bis ich da bin.» «Techno-Freak» ist sein Spitzname für Phil, der geradezu süchtig nach jeglicher Form archäologischer Technik ist.
«Wann kommst du denn?»
«Das ist der eigentliche Grund meines Anrufs. Es gibt große Neuigkeiten: Ich habe für das nächste Vierteljahr ein Freisemester rausschlagen können.»
«Aber das ist ja toll!»
«Ja, nicht? Magda ist auch schon ganz neidisch. Die endlosen Nächte, weißt du, das geht einem hier im Winter ziemlich an die Nieren. Jedenfalls gehe ich davon aus, in etwa einer Woche bei dir zu sein.»
«Toll!», wiederholt Ruth. «Wo kommst du denn unter?»
Erik lacht. «Keine Sorge, ich werde bestimmt nicht bei dir auf dem Sofa campieren. Das müsste ich mir dann ja mit den Katzen teilen, und die würden mich garantiert mit dem bösen Blick belegen. Aber da war doch diese hübsche kleine Pension ganz bei dir in der Nähe. Ich denke, ich werde mir dort ein Zimmer nehmen.»
«Wenn du willst, buche ich für dich», bietet Ruth an und fragt sich gleichzeitig, weshalb es sie bei Erik eigentlich gar nicht stört, wenn er Witze über ihre Katzen macht.
«Lass nur, Kleines. Das mache ich inzwischen alles per Internet. Der Techno-Freak wird stolz auf mich sein.»
«Das wage ich zu bezweifeln. Du, Erik?»
«Ja?»
«Es könnte eventuell sein, dass sich ein gewisser Detective Inspector Harry Nelson bei dir meldet …»
Nelson hatte sie gefragt, ob sie sich noch an jemanden erinnert, der sich vor zehn Jahren bei der Ausgrabungsstätte herumgetrieben und sich womöglich noch für Archäologie und Mythologie interessiert hat. Und Ruth ist tatsächlich jemand eingefallen: ein Mann, der sich Cathbad nannte und das Grüppchen selbsternannter Druiden anführte, das sicheingefunden hatte, um den Henge zu retten. Nach kurzem Zögern entschloss sie sich, Nelson den Namen zu nennen, erntete aber nur ein verächtliches Schnauben dafür. Wusste Ruth vielleicht auch seinen richtigen Namen? Nein? Kannte sie
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