Totenpfad
dann zumindest jemanden, der ihn vielleicht wissen könnte? Da hatte Ruth ihn an Erik verwiesen. Sie erinnert sich, den Wikinger oft im angeregten Gespräch mit Cathbad gesehen zu haben. Die beiden standen zusammen auf dem Watt und schauten aufs Meer hinaus, und Cathbads lila Umhang blähte sich hinter ihm. Wenn Ruth sich nicht irrt, war er damals noch recht jung. Heute muss er wohl Ende dreißig oder höchstens Anfang vierzig sein.
Sie erklärt Erik die Situation, erzählt ihm von der verschwundenen Scarlet Henderson und dem früheren Fall, Lucy Downey.
Erik stößt einen leisen Pfiff aus. «Dann hilfst du also jetzt der Polizei bei diesen Ermittlungen?»
«Nur ganz am Rande. Es gibt da ein paar Briefe, weißt du. Sie kamen, nachdem Lucy Downey verschwunden war, und Nelson vermutet … Aber das kann er dir auch alles selbst erzählen, wenn er dich anruft.»
«Klingt, als hättet ihr euch ganz gut angefreundet.» Eriks Stimme hat einen eigentümlichen Unterton, und Ruth fällt wieder ein, dass er nie allzu viel für Polizisten übrighatte.
«Von angefreundet kann keine Rede sein», verteidigt sie sich rasch. «Ich kenne ihn ja kaum.» Erik schweigt, und so redet sie weiter. «Er ist seltsam, ziemlich kompliziert. Ein typischer Draufgänger aus dem Norden, der Archäologie für Zeitverschwendung hält und Mythologie für Firlefanz und nebenbei noch findet, dass alle Esoteriker erschossen gehören. Aber irgendwie … ich weiß nicht, da ist auch noch etwas anderes. Er ist klug, viel klüger, als man anfangs glaubt. Und irgendwie interessant.»
«Ich freue mich schon darauf, mit ihm zu plaudern», sagt Erik artig. «Darf ich mich dann also als Verdächtigen betrachten?»
Ruth muss lachen. «Aber nein, natürlich nicht! Es ist nur … Er hat mich gefragt, ob ich noch jemanden aus dem Umfeld der Ausgrabung damals weiß, der sich vielleicht für Druiden interessiert hätte. Und da ist mir Cathbad eingefallen.»
«Cathbad.» Erik schnappt so heftig nach Luft, dass Ruth es den ganzen weiten Weg über die Nordsee hinweg deutlich hören kann. «Cathbad. An den habe ich ja seit Jahren nicht mehr gedacht. Was er wohl inzwischen macht?»
«Weißt du noch seinen richtigen Namen?»
«Irgendetwas Irisches, wenn mich nicht alles täuscht. Er hat sich ja auch immer für keltische Mythen interessiert. Malone. Michael Malone.»
«Glaubst du, er hat etwas mit der Sache zu tun?»
«Cathbad? Gott bewahre! Der ist doch das geborene Unschuldslamm. Ein ganz schlichtes Gemüt. Weißt du was? Ich glaube, er hatte tatsächlich magische Kräfte.»
Nachdem sie aufgelegt hat, macht Ruth sich selbst und den Katzen etwas zu essen und wundert sich dabei, wie Erik es immer wieder schafft, einen mit derartigen Äußerungen zu verblüffen. Er ist imstande, mit derselben ruhigen Autorität über Magie zu reden wie über Radiokohlenstoffdatierungen und Geophysik. Glaubt er etwa allen Ernstes, dass Cathbad alias Michael Malone magische Kräfte besitzt?
Ruth weiß es nicht genau. Doch am Abend, vor dem Schlafengehen, schlägt sie Michael Malone im Telefonbuch nach.
7
Eigentlich hatte Ruth wirklich nicht vor, zu Sammys Silvesterparty zu gehen. Nichts lag ihr ferner. Nachdem sie Phil gegenüber erfolgreich eine Erkältung vorgeschützt hatte, lautete ihr Plan für den Abend, sich mit dem neuesten Krimi von Ian Rankin, dem erstaunlich aufmerksamen Weihnachtsgeschenk ihres Bruders, früh ins Bett zurückzuziehen. Shona war fuchsteufelswild. «Du kannst mich doch nicht hängenlassen, Ruth», hat sie am Telefon gejammert. «Ich muss hin, weil Liam eingeladen ist, aber seine Frau kommt auch, und ohne dich besaufe ich mich nur sinnlos und mache mich zum Affen …» Doch Ruth ließ sich nicht erweichen. Shona wird sich vermutlich so oder so besaufen, und die Aussicht, das neue Jahr damit einzuläuten, den ganzen Abend mit Phils Frau über Aromatherapie zu plaudern und gleichzeitig zu versuchen, eine zunehmend unzurechnungsfähige Shona von Liam fernzuhalten, erscheint Ruth alles andere als verlockend. Die Lucy-Downey-Briefe fallen ihr wieder ein.
Ich selbst denke mit jedem neuen Jahr an dich.
Einen Moment lang fragt sie sich, wie Nelson den Abend wohl verbringen wird.
Dann liegt sie im Bett, den Krimi an die angezogenen Knie gelehnt (warum müssen gebundene Bücher nur immer so schwer sein?), lauscht dem rhythmischen Stampfen der Musik nebenan und fühlt sich merkwürdig rastlos. Sie steht auf, um sich etwas Heißes zu trinken zu
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