Totenpfad
verhaftet?
In Trauer.
25. November 1998
Lieber Detective Inspector Nelson,
nun ist bereits ein Jahr vergangen, seit Lucy Downey verschwunden ist. Die Erde hat sich einmal um ihre Achse gedreht, und was hast du vorzuweisen? Du bist tatsächlich nur ein schwacher Mensch.
Verflucht der Mann, der auf Menschen vertraut, auf schwaches Fleisch sich stützt, und dessen Herz sich abwendet vom Herrn. Er ist wie ein kahler Strauch in der Steppe, der nie einen Regen kommen sieht.
In Trauer.
Dezember 1998
Lieber Detective Inspector Nelson,
fast war ich schon drauf und dran, dir keine Weihnachtsgrüße zu schicken, doch dann dachte ich mir, du würdest mich vielleicht vermissen. Tatsache ist jedoch, dass ich zutiefst enttäuscht von dir bin.
Ein Mädchen ist verschwunden, ein Kind, eine unschuldige Seele – und du weißt die Zeichen nicht zu lesen. Ein Seher, ein Schamane reicht dir in Freundschaft die Hand, und du schlägst sein Angebot aus. Erforsche dein Herz, Detective Inspector. Es mussein wahrhaft düsterer Ort sein, voll Verbitterung und Reue.
Doch Lucy ist im Licht. Das kann ich dir versprechen.
In Trauer.
Der letzte Brief datiert von Januar 2007:
Lieber Detective Inspector Nelson,
ob Du mich wohl schon vergessen hast? Ich selbst denke mit jedem neuen Jahr an dich. Bist du dem rechten Pfad ein wenig näher gekommen? Oder hast du dich womöglich längst auf den Weg der Verzweiflung und der Klage verirrt?
Vergangene Woche sah ich dein Foto in der Zeitung. Wie viel Einsamkeit und Trauer haben sich in diese Züge gegraben! Obwohl du mich betrogen hast, tut es mir dennoch schmerzlich leid um dich.
Du hast zwei Töchter. Achtest du gut auf sie? Behältst du sie immer in deiner Nähe?
Das will ich doch sehr hoffen, denn die Nacht ist voller Stimmen, und meine Wege sind unerforscht. Vielleicht besuche ich dich ja wieder, eines fernen Tages.
In Frieden.
Was mag Nelson wohl gedacht haben, fragt sich Ruth, als er diese offene Drohung gegen seine Kinder las? Selbst ihr läuft ein Schauer über den Rücken, und sie schaut ängstlich zu den Fenstern hinüber, um sicher zu sein, dass dahinter auch niemand lauert. Was mag Nelson dabei empfunden haben, über Monate und Jahre hinweg all diese Briefe zu bekommen, die ihm einreden wollen, er sei dem Verfasser auf irgendeine Weise verbunden, sie seien Komplizen oder sogar Freunde?
Ruth schaut noch einmal auf das Datum des letzten Briefs. Zehn Monate danach ist Scarlet Henderson verschwunden. Kann dieser Mann wirklich der Täter sein? Oder ist er vielleicht nicht einmal für Lucy Downeys Verschwinden verantwortlich? Die Briefe sind ein bloßes Gespinst aus Anspielungen und Aberglauben. Ruth schüttelt den Kopf, um wieder klarer denken zu können.
Die Bibel und Shakespeare erkennt sie selbst, doch für die übrigen Zitate hätte sie gern Shonas Rat. Sie hat den Verdacht, dass da noch einiges von T. S. Eliot zu finden ist. Am meisten aber interessieren sie die Anspielungen auf die nordische Mythologie: Odin, der Wissensbaum, die Wassergeister. Und viel wichtiger noch sind die Hinweise auf das archäologische Fachwissen. Den Begriff «Cursus» würde sicher kein Laie in diesem Kontext verwenden. Ruth bleibt im Bett liegen, liest einzelne Stellen noch einmal und denkt nach …
Es dauert lange, bis sie an diesem Abend Schlaf findet, und als es endlich so weit ist, träumt sie von ertrunkenen Mädchen, von Wassergeistern und gespenstischen Lichtern, die den Weg zu den sterblichen Überresten der Toten weisen.
6
«Also, was meinen Sie? Ist er durchgeknallt?»
Ruth sitzt erneut mit einem Kaffee in Nelsons schäbigem Büro. Diesmal allerdings hat sie den Kaffee für sich und Nelson von Starbucks mitgebracht.
«Starbucks, hm?», lautet Nelsons misstrauischer Kommentar.
«Ja, das lag am nächsten. Normalerweise kaufe ich ja nicht bei Starbucks, aber …»
«Und warum nicht?»
«Ach, wissen Sie …» Ruth zuckt die Achseln. «Zu kommerziell, zu amerikanisch.»
«Also, ich liebe Amerika.» Nelson beäugt weiterhin argwöhnisch den Milchschaum auf seinem Cappuccino. «Vor ein paar Jahren waren wir in Florida. Disneyland. Erste Sahne.»
Ruth, für die allein die Vorstellung von Disneyland schon die reinste Hölle ist, erwidert nichts darauf.
Jetzt stellt Nelson seinen Pappbecher ab und fragt noch einmal: «Ist er durchgeknallt?»
«Ich weiß es nicht», antwortet Ruth zögernd. «Ich bin ja keine Psychologin.»
Nelson grunzt
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