Totenpfad
waren. Man findet häufig Leichen, die erstochen, erwürgt oder erschlagen wurden. Bei einer Leiche in Irland waren sogar die Brustwarzen durchschnitten.»
Nelson schüttelt sich unbehaglich. «Dann glauben Sie also, unser Mann weiß über diesen ganzen Eisenzeitkram Bescheid?»
«Das ist nicht auszuschließen. Nehmen Sie nur die Abschnitteüber das Opfer oder den Weidenmann. Manche Theoretiker sind der Ansicht, dass in der Eisenzeit jeden Herbst Menschenopfer dargebracht wurden, um sicherzustellen, dass es auch im Jahr darauf wieder Frühling wird. Die Opfer wurden in einen Weidenkäfig gesperrt und verbrannt.»
«Da gibt es doch auch einen Film drüber», sagt Nelson. «Mit Christopher Lee. Ganz große Klasse.»
«Hm. Na ja. Das wurde natürlich ziemlich aufgebauscht, aber die Opferthematik zieht sich letztlich durch alle Religionen. Odin hat sich am Weltenbaum erhängt, um die Weisheit der ganzen Welt zu erwerben. Christus ist am Kreuz gestorben. Und Abraham war bereit, seinen Sohn Isaak zu opfern.»
«Was meint er überhaupt damit? ‹Wie Isaak, wie Jesus, so trägt auch sie das Holz ihrer eigenen Kreuzigung.›»
«Nun, Isaak trug selbst das Feuerholz, mit dem er verbrannt werden sollte. Das nimmt ganz klar Jesus Christus vorweg, der sein eigenes Kreuz tragen musste.»
«Lieber Himmel.» Nelson schweigt, und Ruth vermutet, dass er jetzt an Lucy Downey denkt, die möglicherweise dazu gezwungen war, selbst das Werkzeug zu schleppen, durch das sie den Tod finden sollte. Ruth hingegen denkt an die Tote aus der Eisenzeit. Wurde sie wirklich an Pfähle gefesselt und dem sicheren Tod überlassen?
Schließlich sagt sie: «Es gibt da noch eine hochinteressante Bibelstelle aus dem Buch Jeremia. ‹Verflucht der Mann, der auf Menschen vertraut, auf schwaches Fleisch sich stützt, und dessen Herz sich abwendet vom Herrn.›»
«Mir war nicht mal klar, dass das auch aus der Bibel ist.»
«Ist es aber. Eines der Bücher der Propheten. Ich habe es nachgeschlagen. Und soll ich Ihnen sagen, wie es weitergeht?»
Ruth zitiert ihm die ganze Stelle: «‹Verflucht der Mann,der auf Menschen vertraut, auf schwaches Fleisch sich stützt, und dessen Herz sich abwendet vom Herrn. Er ist wie ein kahler Strauch in der Steppe, der nie einen Regen kommen sieht; er bleibt auf dürrem Wüstenboden,
im salzigen Land, da niemand wohnt
.›»
Nelson hebt den Kopf. «Im salzigen Land?»
«Ganz genau.»
«Das Salzmoor», murmelt Nelson wie zu sich selbst. «Das hatte ich doch schon immer im Gefühl …»
«Ich glaube ja, dass es noch ein paar weitere Hinweise auf das Salzmoor gibt.» Ruth liest aus einem der Briefe vor: «
‹Sieh nach dem Himmel, den Sternen, den Übergängen. Sieh nach dem, was sich vor dem Horizont abzeichnet. Du findest sie dort, wo die Erde auf den Himmel trifft.›
Erik, ein befreundeter Archäologe, glaubt, dass die Urmenschen möglicherweise Gerüste auf ebenen Landstrichen wie Mooren und Sümpfen errichtet haben, weil sie sich dort vom Horizont abheben und man sie besser sieht. Er vermutet, dass der Salzmoor-Henge auch aus diesem Grund errichtet wurde.»
«Aber es gibt doch noch andere ebene Landstriche. Vor allem hier, in dieser gottverlassenen Gegend.»
«Das stimmt schon, aber …» Wie soll sie ihm bloß erklären, dass der Briefschreiber ihres Erachtens nach Eriks Ansichten über rituelle Landschaften teilt, über Moore, die eine Verbindung zwischen Leben und Tod darstellen? «Wissen Sie noch, was ich Ihnen über Sümpfe und Moore erzählt habe?», fragt sie schließlich. «Häufig findet man Votivschätze, manchmal auch Tote, die dort begraben wurden. Und vielleicht …» Sie deutet auf die Briefe. «Vielleicht weiß dieser Mann das ja auch.»
«Sie glauben, er ist Archäologe?»
Ruth zögert kurz. «Nicht unbedingt. Aber da ist dieses eine Wort. Cursus.»
«Nie gehört.»
«Eben! Das ist ein sehr spezieller Fachausdruck für einen gerade verlaufenden unterirdischen Graben. In den rituellen Landschaften der Vorzeit findet man solche Gräben häufig, wir wissen allerdings nicht, wozu sie genau dienten. Aber im Cursus von Maxey in Cambridgeshire hat man zum Beispiel Schamanenstäbe gefunden.»
«Was für Dinger?»
«Verzierte Stöcke aus Hirschgeweih. So etwas benutzten die Schamanen, die weisen Männer.»
«Und wozu?»
«Das wissen wir nicht. Möglicherweise waren sie Teil irgendwelcher zeremoniellen Riten. Oder sie dienten als eine Art Zauberstab.»
«Der Typ hier …» Nelson
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