Totenpfad

auch vorbeikommen.»
    Ruth traut ihren Ohren nicht. Seit Jahren hat sie niemand mehr zu einer Silvesterparty eingeladen, und jetztmuss sie gleich zwei Einladungen ablehnen. Das muss eine Verschwörung sein.
    «Vielen Dank», sagt sie. «Aber mein Lehrstuhlinhaber macht ein Fest, und ich fürchte, da muss ich hin   …»
    «Natürlich, das verstehe ich.» Offenbar findet Sammy es genauso einleuchtend wie Ruths Eltern, dass man einzig und allein aus Pflichtgefühl auf eine Party geht. «Sie arbeiten an der Universität, nicht wahr?»
    «Ja. Ich unterrichte Archäologie.»
    «Archäologie! Ach, das würde Ed aber gefallen. Er verpasst nicht eine Folge von
Time Team
. Und ich dachte schon, Sie hätten den Beruf gewechselt.»
    Ruth sieht sie verständnislos an, obwohl sie im Grunde schon ahnt, was als Nächstes kommen wird.
    Sammy kichert vergnügt. «Na, der Streifenwagen! Heute Morgen!»
    «Ach, das», sagt Ruth. «Ich helfe der Polizei nur ein wenig bei einer Ermittlung.»
    Und damit, denkt sie trotzig, wird sich die gute Sammy wohl zufriedengeben müssen.
     
    Abends im Bett liest Ruth den Brief vom März 1998 noch einmal, in dem von einem Cursus und einem Dammweg die Rede ist. «Cursus» ist ein recht spezieller archäologischer Fachausdruck, der einen flachen Graben bezeichnet. Der Cursus von Stonehenge beispielsweise ist mit großer Wahrscheinlichkeit noch älter als die Steine selbst.
     
    … Sieh nach dem Cursus und dem Dammweg. Wir kriechen dahin auf dieser Erde und wissen doch nichts von ihrem Lauf und ahnen nichts von ihrem Ziel.
    In Frieden.
     
    April 1998
    Lieber Harry,
    frohe Ostern. Aus irgendeinem Grund kann ich dich nicht als Christen betrachten. Du scheinst mir eher den alten Lehren anzugehören.
    Die Christen glauben, dass Jesus am Karfreitag den Tod am Kreuz gestorben ist, um sie von ihren Sünden zu erlösen – doch hat Odin das nicht schon vor ihm getan, als er sich am Wissensbaum opferte? Genau wie Nelson besaß auch Odin nur ein Auge. Wie viele Augen hast du, Detective Inspector? Tausende etwa, so wie Argus?
    Lucy liegt jetzt tief begraben. Doch dereinst wird sie wieder erblühen.
    In Frieden.
     
    Nun folgen die beiden handschriftlichen Briefe. Sie sind undatiert, doch jemand – Nelson vermutlich – hat das Eingangsdatum darauf notiert.
     
    Erhalten am 21.   Juni 1998
    Lieber Harry,
    die besten Grüße zur Sommersonnenwende. Ein frohes Litha-Fest. Gepriesen sei der Sonnengott.
    Hüte dich vor den Wassergeistern, entfache Feuer am Strand. Und hüte dich vor dem Weidenmann. Jetzt wendet die Sonne sich nach Süden, und die bösen Geister wandern umher. Folge den Irrlichtern, den Geistern der toten Kinder. Wer weiß, wohin sie dich führen werden?
    In Frieden.
     
    Erhalten am 23.   Juni 1998
    Lieber Harry,
    meine Empfehlungen zum Johannistag, zum Tag des Sankt Hans Aften. Kräuter, die in der Johannisnacht gepflückt werden, haben besonders heilende Kräfte, wusstest du das? Du kannst noch so viel von mir lernen.
    Du bist Lucy kein Stück näher, das betrübt mich. Doch weine nicht um sie. Ich habe sie gerettet, sie emporgehoben. Ich habe sie aus diesem profanen Leben befreit, diesem Leben der Anbetung falscher Götzen. Ich habe sie zum vollkommenen Opfer gemacht.
    Weine du lieber um dich selbst und um deine Kinder und Kindeskinder.
    In Frieden.
     
    Die folgenden Briefe sind wieder am Computer geschrieben, und ihr Ton hat sich verändert. Vorbei ist es mit dem fast schon liebevollen Geplänkel, den Andeutungen, dass Nelson und der Verfasser alte Freunde seien und eine ganz besondere Beziehung hätten. Stattdessen wirkt der Schreiber plötzlich zornig und aufgebracht.
    Zwischen dem letzten handgeschriebenen und dem nächsten Brief liegen fast vier Monate, und das Datum überrascht Ruth keineswegs:
     
    31.   Oktober 1998
    Lieber Detective Inspector Nelson,
    die Zeit ist nahe, da die Verstorbenen über die Erde wandeln. Gräber gähnten und spien Tote aus. Hüte dich vor den Lebenden und den Toten. Hüte dich vor den lebenden Toten. Wir, die lebendig warn, sind nun am Sterben.
    Du hast mich enttäuscht, Detective Inspector. Ich ließ dich teilhaben an meiner Weisheit, und doch bist du weder mir noch Lucy auch nur einen Schritt näher gekommen. Du bist wohl doch nur ein Mensch, der der Welt und dem Profanen angehört. Dabei hatte ich Höheres für dich erhofft.
    Morgen ist der Festtag Allerheiligen. Ob du dort im Pantheon die heilige Luzia finden wirst? Oder ist auch sie noch der Erde