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Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
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durchaus leserlich, allerdings nicht sehr sorgfältig und weit nach links geneigt. Eine Männerschrift, nach Ansicht der Experten. Und Ruth wird mit einem Mal klar, dass sie inzwischen kaum noch etwas Handgeschriebenes zu Gesicht bekommt: Ihre Studenten haben allesamt Laptops, ihre Freunde schicken Mails oder SMS, und sie selbst korrigiert inzwischen sogar ihre Aufsätze am Bildschirm. Die einzige Handschrift, die sie noch erkennen würde, gehört ihrer Mutter und findet sich meist auf der Innenseite gefühlsduseliger Glückwunschkarten:«Einer ganz besonderen Tochter zum Geburtstag   …»
    Die handgeschriebenen Briefe befinden sich etwa in der Mitte der Serie. Ruth ordnet sie wieder ein und macht sich an die Lektüre.
     
    November 1997
    Nelson,
    du suchst nach Lucy, doch du suchst sie am falschen Ort. Sieh nach dem Himmel, den Sternen, den Übergängen. Sieh nach dem, was sich vor dem Horizont abzeichnet. Du findest sie dort, wo die Erde auf den Himmel trifft.
    In Frieden.
     
    Dezember 1997
    Nelson,
    Lucy ist das vollkommene Opfer. Wie Isaak, wie Jesus, so trägt auch sie das Holz ihrer eigenen Kreuzigung. Und wie Isaak und Jesus gehorcht auch sie dem Willen des Vaters.
    Gern würde ich dir jene Segenswünsche aussprechen, die zur Jahreszeit passen, dir einen Kranz aus Mistelzweigen winden, doch in Wahrheit ist Weihnachten nur ein Zusatz der Moderne, es wurde der großen Wintersonnenwende aufgepfropft. Das heidnische Fest war zuerst da, mit den kurzen Tagen und den langen Nächten. Vielleicht sollte ich dir ja Glück zum Luzia-Tag wünschen. Wenn du nur Augen hättest zu sehen   …
    In Frieden.
     
    Januar 1998
    Lieber Detective Inspector Harry Nelson,
    du siehst, ich nenne dich nun bei deinem vollen Namen. Es kommt mir vor, als wären wir längst alte Freunde, du und ich. Und auch wenn Nelson nur ein Auge hatte, heißt das noch lange nicht, dass er nichts sah. «Ein Mann könnt sehen, wie’s in der Welt zugeht, auch ohne Augen.»
    In Frieden.
     
    Januar 1998
    Lieber Harry,
    «Es schmilzt die kalte Angst, wenn Hoch und Niedrig/​Sehn – wie ihn unsre schlechte Kunst euch vorstellt –/​den leisen Schatten Harrys in der Nacht.» Wie weise Shakespeare doch war, dieser größte Schamane aller Zeiten. Vielleicht solltest du ja nun die weisen Männer – und die weisen Frauen – zu Rate ziehen? Du suchst nämlich immer noch nicht am richtigen Ort, dem heiligen Ort, dem anderen Ort. Du suchst nur dort, wo Bäume blühn und Ursprung quillt. Sieh noch einmal hin, Harry. Lucy liegt tief unter der Erde, doch sie wird wieder auferstehen. Das kann ich dir versprechen.
    In Frieden.
     
    März 1998
    Lieber Harry,
    der Frühling kehrt zurück, doch meine Freundin nicht. Die Bäume stehen in Blüte, die Schwalben kehren wieder. Ein Jegliches hat seine Zeit.
    Sieh dorthin, wo sich das Land erstreckt. Sieh nach dem Cursus und dem Dammweg.
     
    Ruth hält inne und liest die letzte Zeile noch einmal. Sie starrt auf das Wort «Cursus», und so merkt sie erst nach ein paar Minuten, dass draußen jemand an die Tür klopft.
    Bis auf den Postboten, der ihr hin und wieder einen griesgrämigen Besuch abstattet, um eine Amazon-Bestellung abzuliefern, haben unangemeldete Gäste geradezu Seltenheitswert. Ruth registriert mit leisem Ärger, dass sie nervös ist, als sie die Tür aufmacht.
    Draußen steht die Frau von nebenan, die Wochenendbesucherin, die am Morgen beobachtet hat, wie Ruth mit dem Streifenwagen abgeholt wurde.
    «Oh   …», sagt Ruth. «Hallo.»
    «Hi!» Die Frau setzt ein strahlendes Lächeln auf. Sie ist älter als Ruth, vielleicht Anfang fünfzig, hat sich aber unglaublich gut gehalten: blonde Strähnchen, zartgebräunte Haut, ein durchtrainierter Körper in Hüftjeans.
    «Ich bin Sammy. Von nebenan. Unglaublich, nicht, dass wir uns noch gar nicht richtig kennengelernt haben?»
    Ruth findet das gar nicht so unglaublich. Sie hat sich mit den Wochenendfahrern unterhalten, als sie damals vor etwa drei Jahren das Haus gekauft haben, und tut seither ihr Bestes, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Anfangs waren noch Kinder mit dabei, lärmende Teenager, die bis in die frühen Morgenstunden Musik hörten und mit Surfbrettern und Schlauchbooten bewaffnet über das Salzmoor stapften. Doch inzwischen ist von Kindern nichts mehr zu sehen.
    «Ed und ich   … wir machen eine kleine Silvesterparty. Nichts Aufwendiges, nur ein paar Häppchen. Wir haben Freunde aus London eingeladen, und wir dachten uns, vielleicht möchten Sie ja

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