Totenpfad
wirft das Haar zurück und schaut aus dem Fenster, wo der Himmel sich inzwischen zu einem matten Purpurrot verfärbt hat.
«Wie heißt denn dieser Polizist?»
«Nelson. Harry Nelson.»
Shona fährt herum und sieht Ruth mit großen Augen an. «Im Ernst?»
«Ja. Warum fragst du?»
«Ach, nur so.» Shona schaut wieder zum Fenster hinaus. «Ich dachte nur gerade, ich hätte mal etwas über ihn gehört. Irgendwas über Missbrauch der Polizeigewalt. Mein Gott, schau dir den Himmel an! Ich sollte lieber sehen, dass ich heimkomme, bevor es richtig losgeht.»
Shona ist gerade zehn Minuten fort, als das Unwetter losbricht. Regen und Hagel prasseln so an die Scheiben, dass Ruth sich fühlt, als stünde sie unter Beschuss. Der Wind jagt mit aller Macht vom Meer heran, und Ruths Häuschen scheint bis in die Grundfesten zu erbeben und hin und her geworfen zu werden wie ein Boot auf den Wellen. Natürlich ist sie solche Unwetter längst gewöhnt, findet sie aber jedes Mal von neuem beunruhigend. Das Haus, sagt sie sich, steht schon seit über hundert Jahren hier, da wird es ja wohl noch einem Wintersturm standhalten. Doch der Wind heult und braust und rüttelt an den Fenstern, als wollte er sie eines Besseren belehren. Ruth zieht die Vorhänge zu und schaltet alle Lichter an. Sie beschließt, etwas zu arbeiten, um sich vom Wetter abzulenken.
Doch bevor sie den Ordner «Vorlesungen 07» aufklickt, leuchtet schon unversehens das kunterbunte Google-Logo vor ihr auf. Nach kurzem innerem Kampf gibt Ruth nach und tippt den Namen «Harry Nelson» ein. Sie drückt auf«Enter», und eine ewig lange Liste von Nelsons füllt den Bildschirm, darunter ein amerikanischer Schachgroßmeister und ein Physikprofessor. Auch Harry Nilsson, der Sänger von «Can’t Live If Living Is Without You», ist mit dabei. Ruth summt das Lied vor sich hin, während sie die Seite herunterscrollt. Da ist er ja. DI Harry Nelson, 1990 mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Und noch einmal: Harry Nelson (letzte Reihe, Zweiter von links) als Mitglied eines polizeieigenen Rugby-Teams. Einer weiteren Eingebung folgend ruft Ruth die Website
Friends Reunited
auf, eine ihrer heimlichen spätnächtlichen Vergnügungen. Ja, da ist er. Henry (Harry) Nelson hat ein katholisches Gymnasium in Blackpool besucht. Was er wohl über sich zu sagen hat? Seine Selbstdarstellung ist auffallend knapp: «Verheiratet mit Michelle, zwei Töchter. Lebe inzwischen in Norfolk (Gott steh mir bei).»
Das bringt Ruth zum Nachdenken. Kein Wort über die Polizei. Ob Nelson glaubt, seine alten Freunde in Blackpool könnten ihn verachten, weil er Polizist geworden ist? Und es ist auch interessant, dass er den Namen seiner Frau nennt, nicht aber die Namen seiner Töchter. Vielleicht fürchtet er sich ja vor Pädophilen im Netz. Er weiß sicher sehr viel mehr als die meisten über die dunklen Seiten der menschlichen Natur. Trotzdem ist es irgendwie bezeichnend, dass er die Ehe mit Michelle als Erstes nennt, als wäre sie die große Errungenschaft seines Lebens. Vielleicht ist sie das ja auch. Ruth denkt an die Begegnung kurz vor Weihnachten zurück. Michelle war tatsächlich sehr attraktiv, ein Volltreffer für einen Mann, der sich ein wenig gehenlässt und nicht gerade aussieht, als hätte er eine Dauerkarte im Fitnessstudio oder als würde er mehr als fünf Pfund für einen Haarschnitt ausgeben. Außerdem wirkte sie … Ruth gibt sich Mühe, es für sich selbst klar zu formulieren … wie eine Frau, die ihren eigenen Wertkennt, ihre Attraktivität zu schätzen und zu ihrem Vorteil einzusetzen weiß. Ruth erinnert sich noch genau, wie sie Nelson angelacht und ihm die Hand auf den Arm gelegt hat, schmeichelnd und beruhigend. Kurzum: Michelle ist genau die Sorte Frau, die Ruth auf den Tod nicht leiden kann.
Was lässt sich sonst noch herauslesen? Nun, Norfolk scheint ihm nicht besonders zu gefallen, aber das hat Ruth schon feststellen können, als er von «dieser gottverlassenen Gegend» sprach. Gottverlassen. Auch in seinem Kurzprofil ist wieder von Gott die Rede, während er sich über die Polizei ausschweigt.
Gott steh mir bei.
Ruth weiß genau, dass diese Formulierung als Scherz gemeint ist, und dennoch hat Nelson zumindest eines mit dem geheimnisvollen Briefschreiber gemeinsam: Auch er führt ständig Gott im Munde.
Ruth klickt sich wieder zurück und öffnet den ersten Suchtreffer, den Artikel über die Tapferkeitsmedaille. Sie sieht einen jüngeren Nelson, nicht ganz so
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