Totenpfad
verlebt, der Blick weniger skeptisch. Er hält eine Urkunde in der Hand und fühlt sich sichtlich unwohl. Sie liest den Text, der neben dem Foto steht:
«Für seinen Einsatz bei den Ausschreitungen im Zusammenhang mit der Kopfsteuer in Manchester wurde PC Harry Nelson heute mit der Tapferkeitsmedaille der Polizei ausgezeichnet. Die Ausschreitungen, die rasch eskalierten, kosteten den Polizeibeamten Stephen Naylor das Leben. PC Nelson durchbrach unter Lebensgefahr die Reihen der Demonstranten, um den verletzten Naylor zu bergen. Wenig später erlag Naylor seinen Verletzungen. Der vierundzwanzigjährige James Agar steht wegen Mordverdachts vor Gericht.»
James Agar. Ruth starrt auf den Namen und überlegt fieberhaft, wo sie ihn schon mal gehört hat. Dann fällt es ihr wieder ein: Cathbads Gedicht, «Loblied auf James Agar». Kein Wunder, dass sich Nelsons Miene verfinsterte, als er sah, was auf dem Blatt stand. Und es ist auch kein Wunder, dass Cathbad ihm gerade diesen Text als Handschriftenprobe gegeben hat. Manchester. Es muss zu der Zeit gewesen sein, als Cathbad noch dort studierte. Vielleicht war er ja, wie so viele Studenten, an den Ausschreitungen beteiligt. Ruth hat selbst ähnliche Krawalle erlebt, als sie in London studierte. Sie hat von einem Fenster des University College aus zugesehen. Sie war zwar für die Sache, aber doch zu ängstlich, um selbst an den Demonstrationen teilzunehmen. Cathbad kannte sicher keine solchen Empfindlichkeiten. Und James Agar war später schuldig gesprochen worden. Welche Zeugenaussage wohl ausschlaggebend war?
Natürlich tippt sie daraufhin «James Agar» in Google ein und erhält seitenweise Huldigungen auf den Mann, «dem die Polizei den Mord an PC Stephen Naylor angehängt hat». Im Prozess gegen Agar gab es vor allem einen Hauptzeugen: PC Harry Nelson.
Ruth kehrt zu ihren Vorlesungsnotizen zurück. Der Wind heult immer noch über das Moor. Durch die Katzenklappe sprintet ein triefnasser Flint herein und lässt sich mit Märtyrermiene auf dem Sofa nieder. Sparky ist nirgends zu sehen. Wahrscheinlich versteckt sie sich irgendwo, sie kann Regen nicht ausstehen.
Ruth fügt ein paar läppische Sätze über Bodenerosionen in ihr Skript ein und hat gerade beschlossen, sich ein Trostsandwich zu machen (auch wenn ihr nicht ganz klar ist, wofür sie sich trösten will), als das Telefon klingelt. Sie greift nach dem Hörer wie nach einer Rettungsleine.
«Hallo, Ruth. Wie geht’s dir?»
Peter.
Nach ihrer Trennung hat Peter sich alle erdenkliche Mühe gegeben, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Er lebte und arbeitete in London, rief aber häufig an und kam sie auch ein paarmal besuchen. Diese Besuche endeten regelmäßig im Bett, und das fühlte sich jedes Mal so gut an, dass Ruth unweigerlich zu dem Schluss kam, es müsse ein Fehler sein. «Wenn wir getrennt sind, müssen wir auch getrennt bleiben», hatte sie ihm erklärt. «So weiterzumachen hat doch keinen Sinn. Das geht nicht, und außerdem finden wir so nie jemand Neues.» Das hatte Peter zutiefst verletzt. «Aber ich will doch mit dir zusammen sein», hatte er gesagt. «Wenn wir nicht voneinander lassen können, heißt das doch, dass wir zusammengehören. Begreifst du das denn nicht?» Doch Ruth blieb unerbittlich, und schließlich war Peter wutentbrannt nach London zurückgekehrt, nicht ohne ihr zuvor wiederholt ewige Liebe zu schwören. Ein halbes Jahr später heiratete er eine andere.
Das war inzwischen fünf Jahre her, und Ruth hatte seitdem nur selten von Peter gehört: eine Weihnachtskarte hier, ein Sonderdruck eines Aufsatzes dort. Sie hatte noch erfahren, dass seine Frau Victoria und er ein Kind bekommen hatten, einen kleinen Jungen namens Daniel, der jetzt ungefähr vier sein musste. Seit Daniels Geburt – Ruth hatte einen Teddybären geschickt – hatte Peter geschwiegen, bis zu der SMS an Silvester. «Frohes neues Jahr. Alles Liebe, Peter.» Mehr stand da nicht. Und doch hatte Ruth einen kleinen Stich in der Brust verspürt.
«Peter. Hallo.»
«Eine Stimme aus der Vergangenheit, was?»
«Ja, das kann man wohl sagen.»
Einen Moment lang schweigen beide. Ruth versucht, sich Peter am anderen Ende der Leitung vorzustellen. Ob er aus dem Büro anruft? Oder von daheim? Sie stellt sichvor, dass Victoria, die sie nie gesehen hat, neben ihm sitzt, mit Daniel auf dem Schoß. «Was macht Daddy da?» – «Pst, Schätzchen, er telefoniert mit seiner Ex-Freundin.»
«Tja.» Er klingt betont munter. «Wie
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