Totenpfad
Schweine! Woher wissen die von Ihnen? Ich habe doch genau darauf geachtet, Ihren Namen aus allem rauszuhalten.»
«Es war aber doch klar, dass sie das irgendwann herausfinden.»
Trotzdem überlegt Ruth, wer sie verraten haben kann. Erik? Shona? Peter?
«Die werden Ihnen das Leben zur Hölle machen», warnt Nelson. «Können Sie sich ein paar Tage irgendwo verstecken?»
«Ich könnte bei meiner Freundin Shona unterkommen.» Noch während sie es sagt, denkt Ruth bereits mit Schrecken an die langen, gemütlichen Abende, an denen Shona versuchen wird, ihr Informationen zu entlocken. Sie wird immer möglichst lange im Büro bleiben müssen.
«Machen Sie das. Ich habe meine Frau und meine Töchter auch schon zu meiner Mutter geschickt. Nur so lange, bis das Schlimmste vorbei ist.»
«Wann wird das Schlimmste denn vorbei sein?»
«Keine Ahnung.» Nelson sieht sie wieder an, und in seinendunklen Augen liegt ein verstörter Blick. Draußen hört sie den Regen und den Wind, doch sie scheinen aus weiter Ferne zu kommen, als gäbe es plötzlich nichts mehr auf der Welt als dieses Zimmer, diese kleine Höhle aus Licht.
Nelson sieht sie immer noch an. Schließlich sagt er: «Ich will nicht zurück nach Hause.»
Ruth greift nach seiner Hand. «Das musst du auch nicht», sagt sie.
Sie erwacht von der Stille. Wind und Regen schweigen, die Nacht ist völlig ruhig. Sie glaubt, eine Eule rufen zu hören und ganz in der Ferne das leise Seufzen der Wellen.
Der Mond schaut freundlich durch die offenen Vorhänge herein und bescheint das zerwühlte Bett, die verstreuten Kleider und DCI Harry Nelson, der schlafend und schwer atmend neben ihr liegt, einen Arm über Ruths Brust. Sie schiebt den Arm sanft beiseite und steht auf, um sich einen Schlafanzug anzuziehen. Sie kann gar nicht fassen, dass sie tatsächlich nackt ins Bett gegangen ist – das ist sogar noch schwerer zu glauben als der Umstand, dass sie mit Nelson ins Bett gegangen ist. Dass sie nach seiner Hand gegriffen, sich Sekunden später vorgebeugt und ihre Lippen sanft auf seine gedrückt hat. Sie erinnert sich an sein kurzes Zögern, den leisen Seufzer, ehe er die Hand an ihren Hinterkopf legte und sie an sich zog. Sie haben sich aneinander geklammert, sich verzweifelt und gierig geküsst, während draußen der Regen an die Fensterscheiben schlug. Sie denkt an seine raue Haut, seine erstaunlich weichen Lippen, an das Gefühl, seinen Körper an ihrem zu spüren.
Wie hat das überhaupt passieren können? Sie kennt Harry Nelson doch kaum. Vor zwei Monaten hielt sie ihn noch für den typischen ungehobelten Polizisten. ImGrunde weiß sie nur, dass sie am Abend zuvor etwas geteilt haben, und dieses Wissen schien sie vom Rest der Welt zu trennen. Sie hatten mitangesehen, wie Scarlets Leiche leblos aus dem Sand gehoben wurde. Sie kannten das Leid der Eltern. Sie hatten die Briefe gelesen, wussten, dass das Böse dort draußen im Dunkeln lauerte. Und sie wussten auch von Lucy Downey und fürchteten sich davor, bald ihre Leiche zu finden. Da fühlte es sich mit einem Mal so selbstverständlich an, einander in den Armen zu liegen und den Schmerz mit Berührungen zu mildern. Vielleicht würden sie nie wieder zusammenfinden, doch diese Nacht … diese eine Nacht war richtig gewesen.
Trotzdem, denkt Ruth, während sie ihren schönsten Schlafanzug überstreift (sie wird den Teufel tun und ihn den grauen mit den Füßen dran sehen lassen), trotzdem sollte er jetzt besser gehen. Ihr Name ist an die Öffentlichkeit gelangt, und sie können beide auf keinen Fall riskieren, dass die Presse den leitenden Ermittler im Fall Scarlet Henderson mit der Knochenexpertin im Bett erwischt. Sie schaut auf Nelson herunter. Im Schlaf sieht er jünger aus, die dunklen Wimpern ruhen auf den Wangen, der harte Mund wirkt weicher. Ruth fröstelt, wenn auch nicht von der Kälte.
«Nelson?» Sie legt ihm die Hand auf die Schulter.
Er ist sofort hellwach.
«Was ist los?»
«Du solltest gehen.»
Er stöhnt auf. «Wie spät ist es denn?»
«Fast vier.»
Einen Moment lang sieht er sie an, als würde er sich fragen, wer sie ist, dann lächelt er – das erstaunlich liebevolle Lächeln, das sie bisher nur ein- oder zweimal zu sehen bekommen hat.
«Guten Morgen, Doktor Galloway.»
«Guten Morgen, Detective Inspector Nelson», sagt Ruth. «Wie wär’s, wenn Sie sich jetzt anziehen?»
Während Nelson seine Kleider zusammensucht, entdeckt Ruth eine Tätowierung über seinem Schulterblatt: ein blaues
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