Totenpfad
vor zehn Jahren eine Affäre gehabt.»
«Woher will Cathbad das wissen?»
«Stimmt es denn?»
Statt einer Antwort dreht Shona ihr Haar zum straffen Knoten und steckt ihn mit den Kämmen so heftig fest, dass sich die kleinen Zähnchen sichtbar in ihre Kopfhaut bohren. Sie meidet Ruths Blick, doch Ruth hat ihre Antwort schon bekommen.
«Wie konntest du das nur tun, Shona?», fragt sie. «Was ist mit Magda?»
Shona fährt sie mit solcher Heftigkeit an, dass Ruth einen richtigen Schrecken bekommt.
«Was interessierst du dich denn plötzlich für Magda? Du maßt dir an, mir zu sagen, was richtig und falsch ist, dabeiweißt du rein gar nichts darüber. Was ist denn mit dir und Peter? Er ist inzwischen auch verheiratet, falls dir das entgangen sein sollte.»
«Peter und ich … wir sind nicht …», stammelt Ruth und bringt schließlich ein lahmes «Wir sind nur Freunde» heraus. Insgeheim aber weiß sie, dass Shona recht hat. Sie verhält sich scheinheilig. Oder hat sie etwa einen Gedanken an Michelle verschwendet, als sie Nelson in ihr Bett gelockt hat?
«Ach ja?», gibt Shona gehässig zurück. «Du hältst dich für so perfekt, Ruth, du glaubst, du stehst über menschlichen Gefühlen wie Liebe und Hass und Einsamkeit. Aber so einfach ist das eben nicht.» Dann sagt sie mit sanfterer Stimme: «Ich habe Erik geliebt.»
«Tatsächlich?»
Shona fährt erneut aus der Haut. «Ja, verdammt, tatsächlich! Du weißt doch selbst noch ganz genau, wie er damals war. So einem Mann war ich noch nie begegnet. Ich fand ihn so klug und charismatisch, ich hätte alles für ihn getan. Und als er mir sagte, dass er sich in mich verliebt hat, war das der schönste Augenblick in meinem Leben.»
«Er hat dir tatsächlich gesagt, dass er in dich verliebt ist?»
«Ja! Wundert dich das? Hast du wirklich geglaubt, Magda und er haben die perfekte Ehe? Mein Gott, Ruth, sie haben doch beide die ganze Zeit Affären. Weißt du denn nichts von Magdas Lustknaben daheim in Norwegen?»
«Ich glaube dir kein Wort.»
«Du bist wirklich naiv, Ruth! Magda hat einen zwanzig Jahre alten Liebhaber namens Lars. Er repariert die Sauna und hüpft anschließend mit ihr ins Bett. Und er ist nur einer von vielen. Im Gegenzug macht auch Erik, was er will.»
Um die Vorstellung von Magda mit ihrem zwanzigjährigenHandwerker zu verscheuchen, schaut Ruth zum Fenster hinaus. Das Salzmoor ist fast völlig hinter einer grauen Wand aus peitschendem Regen verschwunden.
«Und glaub bloß nicht, dass ich die Erste für ihn war», fährt Shona verbittert fort. «Es wimmelt nur so von Doktorandinnen, die von sich behaupten können, mit dem großen Erik Anderssen geschlafen zu haben. Das gehörte fast schon zum Curriculum.»
Nur nicht für mich, denkt Ruth. Erik hat sie immer als Freundin behandelt, als Kollegin, als vielversprechende Schülerin. Nie hat er in ihrer Gegenwart auch nur ein einziges zweideutiges Wort gesagt.
«Aber wenn du doch wusstest, wie er ist», sagt sie schließlich, «warum bist du dann überhaupt mit ihm ins Bett gegangen?»
Shona seufzt auf. Der Zorn scheint sie verlassen zu haben, und sie sackt so schlaff in sich zusammen wie die silberne Jacke, die neben ihrem Stuhl auf dem Boden liegt.
«Weil ich natürlich dachte, mit mir wäre alles anders. Genau wie die ganzen anderen dummen Gänse. Ich dachte, ich bin die Frau, die er wirklich liebt. Er hat mir erzählt, er hätte so etwas noch nie empfunden, er würde Magda verlassen, wir würden heiraten und Kinder haben …» Sie bricht ab, beißt sich auf die Lippe.
Und Ruth erinnert sich an Shonas erste Abtreibung, nur wenige Monate nach der Henge-Grabung.
«Das Baby …», setzt sie an.
«… war von Erik», beendet Shona müde den Satz. «Ja. Ich glaube, da ist mir zum ersten Mal klargeworden, dass er es nicht ernst mit mir meint. Als ich ihm erzählt habe, dass ich schwanger bin, ist er richtig ausgerastet und hat mich unter Druck gesetzt, es abtreiben zu lassen. Und weißt du was? Ich hatte allen Ernstes geglaubt, dass er sich freut.»
Ruth schweigt. Ihr fällt wieder ein, was Erik über seine erwachsenen Kinder gesagt hat: «Man muss ihnen die Freiheit schenken.» Nun, das galt offenbar nicht für dieses Kind. Ruth ist eine eifrige Verfechterin des Rechts jeder Frau, eine solche Entscheidung selbst zu treffen, sie macht Shona keine Vorwürfe wegen der Abtreibung. Doch Erik macht sie Vorwürfe, wegen seiner Betrügerei, seiner Scheinheiligkeit, seiner …
«Arme
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