Totenpfad
Ruth.» Shona mustert sie mit merkwürdig kühlem Lächeln. «Es ist fast schlimmer für dich. Du hast ihn immer so sehr bewundert.»
«Ja», erwidert Ruth heiser. «Ja, das stimmt.»
«Er ist trotzdem ein großartiger Archäologe», sagt Shona. «Und ich verstehe mich auch immer noch gut mit ihm. Und mit Magda», setzt sie lächelnd hinzu. «Er ist eben einfach so.»
«Offenbar», sagt Ruth bedrückt.
Shona steht auf und hebt ihre silberne Jacke vom Boden auf. An der Tür dreht sie sich noch einmal um. «Es war niemandes Schuld, Ruth», sagt sie.
Als Shona fort ist, setzt Ruth sich wieder an den Tisch und stellt fest, dass sie am ganzen Körper zittert. Was ist denn bloß so erschütternd an der Entdeckung, dass zwei erwachsene Menschen eine Affäre miteinander hatten? Gut, Erik ist verheiratet, aber solche Dinge passieren nun mal, das weiß sie selbst nur zu gut. Warum ist sie derart enttäuscht und zornig, warum fühlt sie sich sogar hintergangen?
Wahrscheinlich ist sie tatsächlich die ganze Zeit über heimlich in Erik verliebt gewesen. Sie weiß noch genau, wie sie ihm damals beim Studium in Southampton zum ersten Mal begegnet ist, wie er ihr Gehirn in seine Einzelteile zerlegte und dann wieder neu zusammensetzte. Er hat ihr neue Perspektiven vermittelt: auf Archäologie,Landschaft, Natur, Kunst und zwischenmenschliche Beziehungen. Einmal hat er zu ihr gesagt: «Der größte Wunsch des Menschen ist, dem Tod eins auszuwischen und ewig weiterzuleben. Das hat sich seit Jahrhunderten nicht geändert. Darum setzen wir dem Tod auch so viele Denkmäler, die weiterbestehen, wenn wir nicht mehr hier sind.» Ist das der Grund, warum Erik tut und lässt, was er will?
Als Ruth Magda kennenlernte, war sie restlos begeistert. Sie hatte geglaubt, kein Mensch könne gut genug für Erik sein. Doch Magda war es, und Ruth war ganz verliebt in die Beziehung der beiden, ihren liebevollen und kameradschaftlichen Umgang miteinander, der sich so grundlegend von der gestelzten Förmlichkeit der Ehe ihrer Eltern unterschied. Bei Erik und Magda konnte man sich schlicht nicht vorstellen, dass sie einander «Mutti» und «Vati» nannten oder am Sonntagnachmittag gemeinsam ins Garten-Center fuhren. Sie führten das perfekte Leben, gingen bergsteigen und segeln, verbrachten den Winter mit Schreiben und Forschen und den Sommer bei Ausgrabungen. Ruth denkt an das Holzhaus am See in Norwegen, an die Mahlzeiten auf der Terrasse, die Saunagänge und die Abende, die sie mit Essen, Trinken und Reden verbracht haben. Vor allem mit Reden. Das bringt sie mehr als alles andere mit Erik und Magda in Verbindung. Sie redeten ständig, stritten mitunter, hörten sich die Ansichten des anderen aber immer geduldig an. Wie oft hat Ruth ihnen zugehört, während sie, mit Weingläsern in der Hand und der Mitternachtssonne über sich am Himmel, ihre unterschiedlichen Theorien zusammenbrachten, um etwas Neues, Besseres, Vollständigeres daraus entstehen zu lassen? Für Erik und Magda gab es nie den Moment, den Peter beschrieben hat: «Irgendwann hatten wir uns einfach nichts mehr zu sagen.»
Ruth macht sich nichts vor. Ihr ist völlig klar, dass sieMagda und Erik zu perfekten Eltern stilisiert hat und deshalb jetzt so tief enttäuscht ist. Wenn sie dazu noch heimlich in Erik verliebt war, macht das die Sache aus Freud’scher Perspektive perfekt. Während sie auf den regennassen Sumpf hinausschaut, denkt sie, dass sie immer geglaubt hat, etwas Besonderes zu sein. Selbst wenn Erik sie nie begehrt hat, schien er sie doch für eine ganz besonders talentierte Studentin zu halten. Bei der Henge-Grabung legte er großen Wert auf ihre Meinung, sagte Dinge wie: «Ruth wird verstehen, was ich meine, auch wenn ihr anderen das jetzt nicht begreift.» Hieß das denn nicht, dass es zwischen ihnen ein besonderes Einverständnis gegeben hatte? Er hatte ihr immer «archäologisches Gespür» bescheinigt, eine Eigenschaft, die man offenbar nicht erlernen konnte. Eriks Anerkennung hat ihr durch manches schwierige Jahr geholfen, sie gegen Phils geringschätzige Herablassung gefeit und sie getröstet, wenn es ihr wieder einmal nicht gelingen wollte, ein neues Buchprojekt zu Papier zu bringen.
Sie weiß, dass es kindisch ist, und trotzdem hat sie das Gefühl, sich Eriks guter Meinung noch einmal versichern zu müssen. Sie nimmt ihr Exemplar seines Buches,
Der Zittersand
, aus dem Regal und schlägt die Titelseite auf. Da steht es, schwarz auf weiß:
Meiner
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