Totenpfad
Sie bleibt einfach sitzen, schaut den Leuten zu, die beim Supermarkt gegenüber ein und aus gehen, und fragt sich, wie es wohl sein muss, wenn die einzige Sorge darin besteht, ob man nun Würstchen oder Kotelett zum Abendessen machen soll oder ob man noch genügend Kartoffeln für die Pommes frites im Haus hat. Ihr eigenes Leben erscheint ihr plötzlich so grauenhaft und düster wie ein Film von der Sorte, die sie sich spätabends nie alleine anschauen würde. Seit wann ist das eigentlich so? Seit sie im Torfboden gegraben und Scarlet Hendersons Leiche gefunden hat? Seit dem Tag, als Nelson in ihrem Büro stand? Oder schon seit dem Tag, als sie ihren Studiumsleitfaden in Empfang nahm und darauf die Worte las: «Persönlicher Betreuer: Erik Anderssen»?
Als Shona schließlich mit einer Tüte voll Wein von Thresher’s und einer Leih-DVD die Straße entlanggeschlendert kommt, sieht sie mit ihren langen Beinen und ihrer silbernen Jacke so harmlos und unschuldig aus, dass Ruth schon glaubt, sie müsse sich getäuscht haben. Shona kann unmöglich in das alles verwickelt sein. Sie ist schließlich Ruths Freundin, ihre leicht verrückte, schusslige und dabei absolut liebenswerte Freundin. Doch dann sieht Shona sie, und ein seltsam gehetzter Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht, sodass sie aussieht wie ein Fuchs, der im Garten in die Enge getrieben wird. Gleich darauf gewinnt ihr Charme wieder die Oberhand, sie grinst und schwenkt Einkaufstüte und DVD.
«Frauenabend», sagt sie. «Hast du Lust?»
«Ich muss mit dir reden.»
Jetzt sieht Shona ernstlich verängstigt aus. «Gut», sagt sie und schließt die Haustür auf. «Dann komm mal rein.»
Ruth lässt ihr nicht einmal Zeit, die Jacke auszuziehen.
«Hat Erik diese Briefe geschrieben?»
«Was denn für Briefe?», fragt Shona nervös.
Ruth sieht sich im Zimmer um, betrachtet das geschmirgelte Parkett, die schicken Teppiche, die Fotos in ihren hübschen Rahmen – zum ersten Mal fällt ihr auf, dass sie alle Shona zeigen –, die Patchworkdecke auf dem Sofa, die neuerschienenen Romane auf dem Tisch, die Bücherregale mit den zerlesenen Klassikerausgaben von T. S. Eliot bis Shakespeare. Dann sieht sie Shona wieder an.
«Mein Gott», sagt sie. «Du hast ihm geholfen, stimmt’s?»
Shona scheint sich nach einer Fluchtmöglichkeit umzusehen, und wieder wirkt sie wie der Fuchs, der in der Falle sitzt. Doch dann scheint sie aufzugeben, sinkt auf das Sofa und schlägt die Hände vors Gesicht.
Ruth macht einen Schritt auf sie zu. «Du hast ihm geholfen, stimmt’s?», fragt sie noch einmal. «Natürlich, auf diesen ganzen T.-S. -Eliot-Kram wäre er nie von selbst gekommen. Du bist die Literaturexpertin. Und deine katholische Erziehung hat sicher auch nicht geschadet. Er hat sich um die archäologischen und die mythologischen Anspielungen gekümmert, und du hast den Rest übernommen. Ein nahezu perfektes Team.»
«So war es nicht», sagt Shona dumpf.
«Ach nein? Wie war es denn dann?»
Shona hebt den Kopf. Ihr Haar hat sich gelöst, ihre Augen sind feucht, doch Ruth lässt sich von diesem Anblick nicht mehr rühren. Was sie betrifft, kann Shona so schön sein und so viel weinen, wie sie will. Dieses Mittel hat sie schon viel zu oft eingesetzt.
«Es war seinetwegen», sagt Shona. «Wegen Nelson.»
«Was?!»
«Erik hasst ihn», fährt Shona fort und wischt sich mit dem Handrücken die Augen. «Deshalb hat er die Briefe geschrieben. Um Nelson eins auszuwischen. Um ihn abzulenken, ihn davon abzuhalten, den Fall aufzuklären. Um ihn zu bestrafen.»
«Aber wofür denn?», flüstert Ruth.
«James Agar», sagt Shona. «Er hat bei Erik in Manchester studiert. Damals gab es diese Ausschreitungen wegen der Kopfsteuer, und eine Gruppe Studenten ist offenbar auf einen Polizisten losgegangen, der dabei ums Leben gekommen ist. James Agar stand ganz am Rand. Er hat nichts getan, aber Nelson hat ihm die Sache angehängt.»
«Wer hat dir das erzählt? Erik?»
«Das ist doch allgemein bekannt. Jeder wusste davon, sogar die Polizei. Nelson brauchte einen Sündenbock, da hat er sich James ausgesucht.»
«So etwas würde er doch nicht tun», sagt Ruth. Doch im Stillen denkt sie: Wirklich nicht?
«Klar, ich weiß, du magst ihn. Erik sagt, du hast dich völlig von ihm einwickeln lassen.»
«So, sagt er das?» Die Gehässigkeit dieser Bemerkung trifft Ruth, trotz allem. «Und du hast dich natürlich nicht von Erik einwickeln lassen.»
«O doch», sagt Shona müde. «Ich
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